publizistik

 

Und sie wiederholt sich doch

oder

Der sanft lächelnde Kriegstreiber

Wohl noch nie seit dem 24. Februar 2022 sind die Parallelen zwischen dem Ukraine-Krieg und dem Ersten Weltkrieg so offenbar geworden, wie dieser Tage – nunmehr durch eine verantwortungslose Forderung der USA, die jede Grenze der Kaltblütigkeit sprengt. Von Jan Opielka

Der amerikanische Schriftsteller Marc Twain schrieb einmal: „Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.” Tatsächlich? Lassen sie es uns prüfen.

Der Oscar-prämierte Film „Im Westen nichts Neues” aus dem Jahr 2022, auf Grundlage des gleichnamigen Buches von Erich Maria Remarque, zeigt eindrücklich die Sinnlosigkeit des Gemetzels des Ersten Weltkriegs. Und er zeigt, wer an der Front stirbt – und wer, weit hinter der Front, nicht stirbt. Besonders ergreifend sind im Film die Schlussszenen, in denen das Ende des Krieges bereits besiegelt ist. Und doch gibt es einige, die sich weigern, dies zu akzeptieren. Es sind jene ohne Waffe in der Hand, die aber über die Macht verfügen, andere zum Kampf oder zum Rückzug zu befehligen. Es sind nicht sie, die für ihren Mangel an Verantwortung bezahlt haben. Nur die jungen Männer. In der konkreten Szene, die ein Abbild der schwer vorstellbaren Realität der realen Schützengräben war, der junge Paul Bäumer, der heimfahren, der leben sollte und könnte, doch dessen Vorgesetzter unbedingt noch einen kleinen Ort einnehmen wollte. „Wir erobern die Ebene noch vor 11 Uhr, und beenden diesen Krieg mit einem Sieg“, schreit der General den Soldaten entgegen.

106 Jahre und einen Monat später. Der scheidende US-Außenminister Antony Blinken sagt nach einem zweitägigen Treffen mit Amtskollegen der Nato-Staaten in Brüssel am 4. Dezember in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters folgende Worte zur Kriegführung der Ukraine: „Wir sind der Meinung, viele von uns sind der Meinung, dass es notwendig ist, jüngere Menschen in den Kampf einzubeziehen. Im Moment sind die 18- bis 25-Jährigen nicht im Kampf.”1 Wen Blinken mit „wir” meinte, blieb zunächst unklar. Es gab zu dem Thema keine gemeinsame Erklärung der anderen Außenminister. Doch auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte, der zwar keine Konkreta zu dem Alter der zu rekrutierenden Soldaten nannte, sagte bei dem Treffen in Brüssel: „Wir müssen natürlich auch dafür sorgen, dass genügend Leute in der Ukraine zur Verfügung stehen. Wir brauchen wahrscheinlich mehr Leute, die an die Front gehen.“ Blinken sagte diplomatisch pflichtschuldig, es sei natürlich und letztlich die ukrainische Führung, die in dieser Frage entscheiden müsse. Und er betonte, Kiews Verbündete würden sicherstellen, dass alle mobilisierten Truppen die notwendige Ausbildung und Ausrüstung erhalten. „Die Verpflichtung, die wir als Bündnis und als Länder, die die Ukraine unterstützen, haben, besteht darin, sicherzustellen, dass wir für jede Truppe, die mobilisiert wird, Ausbildung und Ausrüstung zur Verfügung stellen.”

Das Problem ist die Distanz

Die Perfidität der Forderung, 18-Jährige in einen Krieg zu schicken, der von Beginn an vermeidbar war, einen Monat nach seinem Anfang hätte zu Ende gehen können2, und nun angesichts von Trumps kommender Präsidentschaft womöglich zu einem Ende kommen könnte, würde schlagartig klar, wenn wir die Distanz zwischen den Fordernden – Blinken & Co – und den Aufgeforderten – 18-25-jährige ukrainische Männer – aufhöben. Stellen wir uns eine konkrete Situation vor, die das von Blinken geforderte lediglich in eine andere Szenerie setzt: der 62-jährige stets besorgt-besonnen wirkende, sanft lächelnde Blinken würde vor Pressekameras einem ukrainischen 18-jährigen, nennen wir ihn Dmytro Kovalenko, ein US-Maschinengewehr in die Hand drücken. Der junge Mann wäre etwa ein frisch gebackener Kfz-Mechaniker, der gerne Science-Fiction-Filme schaut, vor drei Monaten seine erste Freundin traf und von einer Reise zu den ägyptischen Pyramiden träumt. Blinken würde Dmytro gegenüber die gleichen Worte sagen, die er tatsächlich verwendete: „Dmytro, wir sind der Meinung, dass es notwendig ist, jüngere Menschen in den Kampf einzubeziehen. Wir verpflichten uns, sicherzustellen, dass du eine gute Ausbildung und Ausrüstung erhältst, um gegen die russischen Invasoren zu kämpfen, die immer größere Teile deines Landes erobern.” Gut möglich, dass der fiktiv-reale Dmytro Kovalenko, als er das Maschinengewehr von Blinken erhielte, noch leise fragte. „Wollen sie mit mir gemeinsam kämpfen gehen? Sie sind älter und erfahren. Ich bin jung und ich habe Todesangst.”

Würde der US-Diplomat einer solchen Zeremonie konkreter Mobilisierung zustimmen? Wohl kaum. Und dass nicht nur deshalb, weil, vor allem in Deutschland, sich bei diesem Anblick allzu viele Menschen jene Bilder vom April 1945 in Erinnerung rufen würden, als Adolf Hitler minderjährige Jungs vor ihrem letzten Kampf lächelnd an den Wangen streichelte. Sie bedeutete vor allem Nähe, in der das Reale des Krieges plötzlich nahe – und für Viele unannehmbar wäre. Würde Blinken, wäre er selbst Ukrainer, seinen eigenen 18-jährigen Sohn in den Kampf schicken?

Es ist kein Zynismus, der mich solche semi-fiktiven Worte und Szenen schreiben lässt. Es ist die blanke Ohnmacht und grenzenloser Zorn. Ohnmacht und Zorn angesichts all dieser westlichen Kriegstreiber in Maßanzügen, für die der Tod abertausender (junger) ukrainischer Männer und Frauen den Wert einer Zahl oder einer Waffe hat. Durch die sich am politischen Horizont abzeichnenden, aus dem Trump-Lager durchsickernden Pläne zur Beendigung des Krieges wirken Forderungen nach einer Mobilisierung von faktischen Jugendlichen – und damit nach noch mehr Toten – noch schriller: in ihrer Kaltblütigkeit, in ihrer Schamlosigkeit, in ihrer Bodenlosigkeit. Würde Antony Blinken einen Rest von Anstand, einen Rest von Schamempfinden spüren, würde er bereits jetzt auf die Linie umschenken, die sich durch den künftigen Machthaber im Weißen Haus abzeichnet. Diese zielt laut dem, was wir etwa von Trumps designierten Ukraine-Sondergesandten Keith Kellog vernehmen, auf ein verhandeltes Ende des Krieges ab3. Es wird, wie auch immer es ausgeht, aus Sicht der Ukraine einen ungerechten Waffenstillstand und ungerechte Gebietsverluste bedeuten. Aber es bedeutete eben auch: ein Ende der sinnlosen Todesopfer.

Kinder an die Macht Front

Blinken könnte, würde er, und würden die EU-Staatschefs umschwenken, in erster Linie dazu beitragen, dass in den kommenden Wochen und Monaten zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger Menschen sterben würden – von der gebremsten Eskalationsdynamik, die Ziel jeder verantwortungsvoller Politik sein müsste, und die sich derzeit, ganz im Gegenteil, gefährlich hochschraubt, nicht zu sprechen. Wofür sollen die neu zu Rekrutierenden sterben – für das Halten von ukrainischem Land vor dem unvermeidlichen Waffenstillstand? Wie ist dabei die Rechnung? 1000 neue Soldaten im Alter von 18-25 Jahren ist gleich 100 Quadratmeter Erde? Der US-Politologe John Mearsheimer sagt, dass die scheidende Regierung bewusst einiges dafür tut, Trumps möglichen ‚Deal’ mit Putin zu verunmöglichen4. Biden wolle unbedingt vermeiden, dass die Ukraine womöglich noch in seiner Amtszeit eine Niederlage erleide, was angesichts der Frontlage eine durchaus realistische Möglichkeit darstelle5. Eine mögliche Niederlage der Ukraine solle später Trump zugeschrieben werden können. „Die Biden-Regierung unterminiert die Trump-Regierung, bevor diese ihr Amt antritt“, so Mearsheimer in einem Interview am 20. November. Ein weiter eskalierter Krieg – zuletzt die US-Entscheidung, der Ukraine den Einsatz amerikanischer ATACMS-Raketen auf russischem Territorium sowie Anti-Personen-Minen zu erlauben, und als Antwort Moskaus verstärkte Angriffe und die Aktualisierung der Einsatzdoktrin für Atomwaffen – könnte tatsächlich eine sog. „gesichtswahrende“ Übereinkunft für den neuen, harten Deal-Macher aus dem Weißen Haus, und auch mögliche europäische Friedenslösungen, erschweren oder gar unmöglich machen6.

Freilich werden weder Blinken, noch andere westliche Staatschefs in der EU diesen Schwenk aus eigenen Stücken vollziehen, auch wenn einige, wie Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampfmodus, ihn zumindest andeuten. Denn was fehlt, ist ein massiver öffentlicher Druck und Protest. Doch über Blinkens skandalöse Aussage „18-Jährige an die verlorene Front”, die man offenbar auch als halb-offizielle Nato-Position verbuchen kann, gibt es kaum Kritik. In Nischenmdien, ja, bei engagierten NGOs, bei einzelnen Persönlichkeiten, in privaten GEsprächen, auf sozialen Medien. Aber in den großen politischen Parteien westlicher Staaten? Fehlanzeige. Bei führenden „Leitmedien”? Fehlanzeige. In Deutschland wird über Blinkens Worte kaum berichtet. Für die Leitartikler in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten, ist die Forderung, volljährige Jugendliche an die Front zu schicken, die in ihren Staaten millionenfach noch zur Schule gehen oder vor dem Abitur stehen, offenbar nicht der Rede wert. Dafür ergehen sich die Medien in den letzten Tagen über Joe Bidens umstrittene Begnadigung seines Sohnes Hunter. Diese war sicher falsch, zeigt der Vorgang doch den auch in den „wertebasierten”, rechtsstaatlichen Demokratien üblichen, schamlosen Missbrauch von Macht. Aber kostet diese Begnadigung auch nur ein Menschenleben? Wohl kaum. Blinkens Diktum indes würde, sollte es umgesetzt werden – was es angesichts auch des Widerstands in der ukrainischen Gesellschaft wohl nicht mehr wird – genau dies bedeuten.

Auf den zweiten Blick verwundert die fehlende Kritik kaum. Denn Menschen & Medien überbetonen lieber politische Skandale und Verfehlungen oder erinnern an sie vor allem dann, wenn sie möglichst nicht das vorherrschende Weltbild oder das bestehende (politische) System infrage stellen, indem sie (wir) selbst stecken und leben. Denken wir beim Stichwort ‚politischer Skandal‘ an US-Präsident Richard Nixon, fällt der Mehrheit der Menschen das Thema „Watergate“ ein – jene verdeckte Ausspionierung der oppositionellen Demokratischen Partei, bei der keine Verletzten und Toten überliefert sind. Und nicht an den von Nixon geführten Vietnam-Krieg, bei dem 2,3 bis vier Millionen Menschen in Vietnam, Laos und Kambodscha sowie mehr als 58.000 US-Soldaten ums Leben kamen7, und bei dem Nixons Außenminister und späterer Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger „bis zum Anschlag eskalieren“ wollte8. Denken wir im gleichen Terminus ‚Skandal’ an Bill Clinton, kommt bei Vielen wohl schneller der Name Monika Lewinsky in den Kopf, als etwa die rund eine halbe Million irakischer Kinder, die alleine bis zum Jahr 1995 aufgrund von massiven US-Sanktionen gegen den Irak starben9, und von denen Clintons spätere Außenministerin Madeleine Albright 1996 sagte, diese toten Kinder seien „ein Preis, der es wert ist, bezahlt zu werden”10.

Es bleibt die Frage: wie werden die Menschen einst Joe Biden erinnern – und seinen Außenminister Antony Blinken?

Ja, es ist die ukrainische Führung, die entscheidet, wie und wen sie rekrutiert. Zuletzt gibt es kaum mehr Freiwillige, in den letzten Monaten erfolgt die Mobilisierung meist unter mehr oder weniger offenem Zwang11, die Zahl der Deserteure steigt rapide12. Dabei gäbe es wohl ein bislang noch nicht genutztes, indirektes Vehikel, mehr ukrainische Männer, vor allem ältere, freiwillig dazu zu bewegen, an die Front zu ziehen. Denn würden sich zumindest einige namhafte ukrainische Politiker, die sich für ein Weiterkämpfen einsetzen – womöglich auch einige westliche, die im Ukraine-Krieg auch einen russischen (Vorbereitungs)Krieg gegen den Westen sehen -, ihren politischen Dienst weit hinter den Frontlinien quittieren und selbst zur Waffe greifen, dürfte dies wohl einige ukrainische Männer dazu bewegen, an die Front zu gehen. Vor allem jene, die mit sich ringen – ich habe einige getroffen, die innerlich zerrissen waren, ob sie an die Front sollen oder nicht. Diese Männer würden angesichts selbst kämpfender Politiker ernsthaft glauben können, vor der Kriegsgefahr seien alle gleich, und es gäbe in der Zeit existentieller Bedrohung nicht Gleiche und Gleichere. Doch das wird nicht geschehen.

Verantwortungslosigkeit, wie eh und je

Im Ersten Weltkrieg starben laut Schätzungen 17 Millionen Menschen. Seine Verheerungen, die Nachkriegspolitik der damaligen Siegermächte, aber auch die psychosozialen Verletzungen traumatisierter Überlebender legten die Saat für eine noch größere Katastrophe – den Zweiten Weltkrieg. Einer der Brandstifter des Ersten Weltkrieges, der deutsche Kaiser Wilhelm II, der bis dato stets und überall in Militäruniform auftrat, musste zur „Strafe” für die Millionen Todesopfer, die Verkrüppelten, die psychisch Geschädigten, die Waisen, die er maßgeblich mitverantwortete – abdanken. Kein Gericht, keine Sühne, keine Verantwortung; die Weimarer Republik, die er hasste, überließ ihm viele seiner Güter und Vermögenswerte. Die folgenden Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1941 verbrachte er im niederländischen Exil auf Schloss Amerongen – Reue für seine todbringende Politik zeigte er bis zuletzt keine.

Wladimir Putin wird für die von ihm verursachten Verbrechen und die ungezählten Kriegstoten, in der Ukraine, aber etwa auch in den Tschetschenien-Kriegen, womöglich einst im Höllenfeuer büßen, sollte es dieses geben, sich aber wahrscheinlich nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verantworten, wo er eigentlich hingehört. Gleiches gilt für viele andere. Etwa für US-Ex-Präsident George W. Bush, der heute über den verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak bei öffentlichen Auftritten Witze machen13 und in Anwesenheit und unter Ehrbekundungen früherer US-Präsidenten eine Bibliothek eröffnen kann, die seinen Namen trägt14, statt vor den Haager Richtern zu stehen, wohin auch er hingegehört.

Und Antony Blinken? Er dürfte nach seinem baldigen Ausscheiden aus dem Amt als angesehener außenpolitischer Experte durch die Welt reisen oder auch in die vom ihm 2017 mitgegründete Beratungsfirma WestExec Advisors zurückkehren, die sich darauf spezialisiert, Aufträge des US-Verteidigungsministeriums an Firmen aus dem Silicon Valley zu vermitteln15.

Nochmals zurück zu Marc Twain: „Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.”

Ja, sie reimt sich. Und: sie wiederholt sich. Denn die grundlegenden Strukturen von Macht, Befehlsgewalt, Gehorsam, Hierarchie, und vor allem des Wertes, den zu viele Regierende jenen „einfachen Menschen” beimessen, die stets am Anfang, inmitten und am Ende eines jeden Krieges sterben – sie haben sich auch 106 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, der erstmals massenhaft und systematisch Jugendliche in den sicheren Tod schickte, nicht wesentlich geändert – trotz Demokratisierung und „Fortschritt”. Der kategorische Imperativ Immanuel Kants, in der Formel „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ – er hat sicher nicht wenige Menschen zum Nachdenken gebracht, und viele individuelle Verhaltensweisen geprägt. Aber nicht jene in der großen, internationalen Politik; nicht jene, in denen Macht und Interessen über allem stehen. Diese haben, was die Frage von Krieg und/oder Frieden angeht, nur eine andere Form, eine andere Kolorierung, eine andere Rhetorik angenommen. Und andere, zivile Kleider.

Epilog

Der Film „Im Westen nichts Neues“ endet mit einer 40 Sekunden dauernden, kaum erträglichen, stillen Einblendung des Gesichts des getöteten, 18-jährigen Paul Bäumer. Danach kommt der Schwenk – die Kamera zeigt weites, hügeliges, bewaldetes Land.

8Siehe: Greiner, Bernd: „Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben.“ C.H. Beck, 2021, S. 121. https://www.chbeck.de/greiner-made-washington/product/32450594

 

 

Zynismus der Werte

Über ein Bild, das mehr sagt als falsche Worte es je tun können / 11. März 2024

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock besuchte Anfang Januar 2024 den von Israel bombardierten Gaza-Streifen. Mit einem Flugzeug der Bundeswehr angereist, „brachte“ Baerbock zahlreiche Paletten mit Hilfsgütern nach Rafah/Al-Arish. Mit ihrem Besuch wollte sie öffentlich ihre Sorge um die PalästinenserInnen in dieser Todeszone unterstreichen. Natürlich schlossen sie und die deutsche Regierung sich vorher und nachher weder den Kritikern der rücksichtslosen Tötung von Zivilisten durch die israelische Armee im Rahmen der Vergeltung für den blutigen Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 an, noch forderten sie ein Ende der Bombardierungen. Deutschland enthielt sich Ende 2023 zweimal bei der Abstimmung über eine UN-Resolution, die eine Einstellung der Kampfhandlungen forderte. Kurz vor ihrem Flug nach Rafah bestätigte die deutsche Ministerin, dass die Bundesregierung ihre bisherige Politik geändert habe und Saudi-Arabien – ein de facto diktatorisch von einem König regiertes Land – mit Flugabwehrwaffen beliefern werde, deren Export in das Land sie bisher kategorisch abgelehnt hatte. Es geht darum, Saudi-Arabien noch näher an das westliche Lager und an Israel heranzuführen. Diese Schritte – Lebensmittel für die Bombardierten, kein ernsthafter Widerstand gegen die Bombardierung, Waffen für die Saudis – sind an sich schon ein Zynismus, der die Grenzen dieses Begriffs eigentlich schon sprengt.

Was jedoch meine Aufmerksamkeit erregte, war ein bestimmtes Foto von der Landung Baerbocks in Rafah, an der Grenze Gazas zu Ägypten. Es ist ein Foto, das von der deutschen Nachrichtenagentur dpa aufgenommen und u.a. auf spiegel.de veröffentlicht wurde
(siehe: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-am-gazastreifen-an-der-grenze-des-leids-a-65e5a981-83e4-4a04-83d1-36258794160b). Wir sehen darauf die Ministerin aus dem Heck eines Airbus-Militärflugzeugs steigen, im Hintergrund sind Paletten mit Hilfsgütern zu sehen, auf der die deutsche Flagge prankt. Baerbock tritt mit einem Lächeln aus dem Flugzeug. Das Foto soll uns sagen: Seht, wie wir uns kümmern, wie wir helfen, wie wir den Palästinensern humanitäre Hilfe bringen. Es sagt nicht: Wir machen ein paar Fotos, lassen ein paar Hilfsgüter hier, fliegen bald weg, und sie werden weiter bombardiert, sie werden weiter sterben, ohne dass wir ernsthaft dagegen protestieren.

Aus journalistischer Sicht betrachtet: Es ist verwerflich, dass dpa solche Bilder macht. Und noch verwerflicher, dass der Spiegel es unkritisch veröffentlicht.
Es ist ein PR-Foto. Es steht sinnbildlich und stellvertretend für mit journalistischen Umhang getarnte PR. In anderen Staaten nennt man das: Propaganda.

Die Schriftstellerin Katharina Döbler schrieb bereits im Jahr 2021 in der Monatszeitschrift „Le monde Diplomatique“ bedenkenswerte Worte über unsere „westlichen Werte“: „Es gibt einen Zynismus der Werte. Nur dass er innerhalb des jeweiligen Wertesystems keineswegs als zynisch wahrgenommen wird, sondern als etwas Erhabenes und irgendwie Folgerichtiges.” (https://monde-diplomatique.de/artikel/!5780386

(...)

Ich bin seit 20 Jahren Journalist. Und dabei immer enttäuschter und wütender, wie zusehends einseitig und Themen-ausklammernd wichtige („Leit“)Medien fundamentale Ereignisse behandeln, und mit welchen offenen und unterschwelligen Positionen. Sei es der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Gaza-Streifen, seien es westliche Politiken, deren moralisierende, vereinfachende Schwarz-Weiß-Rhetorik Medien wie der „Spiegel“, die „Welt“, die „Tagesthemen“ u.a. nicht kritisch auseinandernehmen, sondern wohlwollend begleiten, flankieren, mitunter in Szene setzen. Daher an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise (nicht in eigener Sache), zwecks besserem Überblick, und besserem Verstehen, andere Medien und Quellen als (nur) die „leitenden“ zu nutzen. Medien, die zumindest helfen können, den erwähnten Zynismus zu entlarven.   

- das deutschsprachige Portal der Nichtregierungsorganisation Medico International (https://www.medico.de/), die ein regelmäßiges und lesenswertes „Rundschreiben“ herausgibt, in dem Erfahrungen der Hilfepraxis der Organisation in Krisengebieten der Welt mit kritischer Analyse verschmilzt (https://www.medico.de/rundschreiben)

- als englischsprachiges Medium ist das durch Kleinspenden finanzierte, komplett werbefreie Online-TV-Portal https://www.democracynow.org/ sehr empfehlenswert, darin die tägliche Nachrichtensendung „The War and Peace Report“ (https://www.democracynow.org/shows/2024/3/11).

- nicht zuletzt, ebenso englischsprachig, die Interviews des renommierten (Kriegs)Reporters und Autors Chris Hedges, dessen Sendungen über das Real News Network zu sehen sind (https://therealnews.com/chris-hedges-report)

 

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Europa realisieren  

An dieser Stelle eine Empfehlung an alle, die die Kontexte des Ukrainekrieges, die Rolle der EU darin, vor allem der USA und Russlands aus einem anderen Perspektive betrachten möchten:

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot stellt in ihrem bereits im Okt. 2022 mit dem Geschichtsphilosophen Hauke Ritz verfassten Buch „Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“ eindrücklich die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union in den letzten 30 Jahren dar. Sie zeigen, warum die EU es nicht vermochte, das in ihr eigentlich angelegte Projekt einer immer tieferen, aber auch basisdemokratischeren Union zu verwirklichen. Aus diesem Scheitern der EU, die lediglich im Ökonomischen große Integrationsschritte schaffte (Binnenmarkt, Euro), erwuchs, so Guerot und Ritz, die heute mehr als sichtbare politische Schwäche der EU. Eine Schwäche mit fatalen Folgen. 

Dass das Buch recht hohe Wellen schlug und Kritiker den Beiden reihenweise Anti-Amerikanismus und Russland-Nähe unterstellten, hängt damit zusammen, dass Guerot/Ritz in dem langen Essay einen kritischen Blick auf den Ukraine-Krieg werfen. Warum? (…)

In den Buch kritisieren Guerot und Ritz die verhängnisvoll unterwürfige Rolle der EU gegenüber den USA. Sie schreiben recht deutlich: indirekter und sich über Jahre aufbauender Auslöser des Krieges waren die USA, die auf dem eurasischen Kontinent eigene Interessen verfolgen, die – und dies ist der entscheidende, in den öffentlichen Debatten nach wie vor strittige Punkt – sich nicht mit den Interessen der EU decken. Denn es sind die Staaten der EU, die auf einem Kontinent gemeinsam mit Russland existieren; als direkte Nachbarn, auf Gedeih und Verderb. Das Argument der Autoren: vornehmlichstes Interesse der Europäer ist und muss es sein, hier eine stabile Friedensordnung zu schaffen. Warum dieses Friedensprojekt in den Jahren seit dem Mauerfall 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion gescheitert ist – darauf gibt das Buch eine überzeugende Antwort, indem es die wesentlichen Entwicklungen bis heute darlegt und interpretiert. Und warum wird es derart heftig kritisiert? Weil es das Scheitern dieses Friedensprojektes in erster Linie nicht Russland zuschreibt, sondern dem schwachen Europa, den eigensinnigen deutschen Regierungen vor allem seit Gerhard Schröder, und den Machtinteressen der USA. Die Vereinigten Staaten – darauf weisen nicht nur Guerot/Ritz, sondern selbst konservative US-Experten wie der Geostratege George Friedman u.a. - wollen seit jeher verhindern, dass sich ein stärker geeintes Europa an Russland annähert. Denn das stärkte diese beiden (potenziellen) Machtblöcke, EU wie Russland, und schwächte die USA.

Belege für diese These gibt es zuhauf, auch jenseits des Buches von Guerot/Ritz. Es ist keine Verschwörungstheorie, wenn man feststellt, dass ein Vorbringen solcher Zusammenhänge in den wichtigsten westlichen Medien und von den wichtigsten Parteien als Russland-Verstehertum diffamiert wird.

Denn: ja – es gibt sie, jene Selbstzensur der Medien, der Medienschaffenden und JournalistInnen in Staaten westliche Russlands und der Ukraine. Als Journalist spüre ich selbst immer wieder, mich gegen diese Selbstzensur innerlich und äußerlich zur Wehr setzen zu müssen. Und ich sehe diese Selbstzensur des Denkens auch bei KollegInnen. Diese Selbstzensur rührt aus der Sorge, aus einem scheinbar legitimen Erzählrahmen hinauszufallen, und den Kontakt und konkret: ggf. Arbeit und Aufträge zu verlieren, wenn man es mit der Selbstkritik, der Kritik am eigenen (westlichen) Lager also, übertreibt. Denn immerhin gibt es in der Nachbarschaft Krieg, mit verheerenden Opferzahlen, und der Aggressor ist doch scheinbar ganz klar, ebenso wie das Datum oder die Daten des Kriegsbeginns, 2022 bzw. 2014, mit der Besetzung der Krim und des Donbas. Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat seine Wurzeln weitaus früher, und vor allem: er hat seine Wurzeln nicht nur in Russland.

Selbstzensur eben (…)

Guerots/Ritzs Schrift ist nicht das erste ernsthafte Buch, das die Erzählung vom klaren Freund-Feind, Richtig-Falsch-Schema des Ukraine-Krieges durchbricht. Ulrike Guerot ist eine leidenschaftliche Verfechterin einer künftigen Europa-Republik, als versierte Politikwissenschaftlerin, die um die tragische europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts weiß, plädiert sie für eine fundamentale und stabile Friedensordnung auf unserem eurasischen Doppelkontinent. Damit aber ein starkes (und friedliches) Europa entstehen und gedeihen und eine haltbare Friedensordnung etabliert werden kann, ja: auch künftig mit Russland – dafür muss sich die EU aus ihrer unterwürfigen Rolle gegenüber der Großmacht USA lösen. Wie sie dies tun kann, und wie die EU zu einer neuen Stärke kommen könnte, und dabei ihre Defizite – das Demokratie-Problem Brüssels, die Stärkung der Regionen, das antikapitalistische Moment – beheben könnte, damit schließt das Buch, in einem hoffnungsvollen Kapitel.

Auch wenn ich nicht mit allen einzelnen Aspekten der Autoren übereinstimme und einzelne Formulierungen mitunter zu stark vom Gefühl getragen sind – ich kann das Buch nur dringend empfehlen.

Aber Vorsicht: es könnte das eigene Weltbild ins Wanken bringen. Und darin genau liegt das Problem (…). 


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Neue und alte KI

Künstliche Intelligenz neben/gegen Kultur-Intelligenz? / 8. Mai 2023

Es ist die neue, aufrüttelnde Neuheit der letzten Zeit: neue Programme der Künstlichen Intelligenz (KI) erobern die Welt. Sie bringen die Verheißungen von Veränderung, Fortschritt, Effizienzsteigerungen, der Erschließung noch unerforschter Dimensionen. Aber auch: die Sorge vor der Vernichtung von Millionen von Arbeitsplätzen und ganzen Berufen, die Gefahr einer neuen Dimension von Manipulation, von Fake News 2.0., von nie gekannter Verdrängung und Reduzierung des Menschen. Und all dies und mehr ist tatsächlich zu erwarten. Und zu fürchten.

Indes, die Künstliche Intelligenz (KI) wird dann gefährlich für die Gesellschaft als Ganze, wenn wir als Menschen auf und in Bereiche reduziert werden und uns reduzieren lassen, in denen das im weitesten Sinne Technologische dominiert. Das betrifft die Produktion von allen möglichen Dingen und die Konsumption von Erzeugnissen und Dienstleistungen, die aus sich heraus aber keinen Mehrwert generieren, der über den Bereich, in dem er stattfindet, hinaus strahlen – und nicht ein anderes Wachstum stimulieren würde. Dieses andere Wachstum, das eine der Lösungen auf die Frage der KI ist, ist das Wachstum des Innern des Menschen und das Wachstum der interpersonellen Tiefe, sprich: der Beziehungen zwischen den Menschen, ob in Form von Freundschaften oder auch weiteren gesellschaftlichen Kreisen, die auf mehr Vertrauen und Augenhöhe basieren, und nicht auf Kontrolle und Hierarchie.

Die Künstliche Intelligenz kann uns durchaus Aufgaben abnehmen, die wir durchaus an sie delegieren könnten. Ebenso, wie vor rund 70 Jahren das Waschen der Wäsche in den sich industrialisierenden Gesellschaften nach und nach an die Waschmaschine ausgelagert wurde. Um diese neuen Auslagerungen von Aufgaben aber menschenverträglich zu machen, müsste die KI eine entscheidende Bedingung erfüllen: sie müsste möglichst basisdemokratisch sein, wenn es um gemeinschaftliche Dinge geht, und allgemein verfügbar sein, wenn es um die persönliche Nutzung geht. Dass beides geschehen und gelingen kann, scheint derzeit zwar unwahrscheinlich. Doch unmöglich ist dies nicht. Wahrscheinlich ist ein Co-Existieren, ein Nebeneinander von frei verfügbarer KI, die im Sinne des Gemeinwohls wirken kann, mit jener, die kommerziell, medial und politisch genutzt (und missbraucht) werden wird. Durchaus möglich und wahrscheinlich, dass beides miteinander konkurrieren wird. In anderen Bereichen gibt es dieses Nebeneinander, diese Konkurrenz schon heute. Schon heute konkurrieren etwa Medien kleiner Verlage, solche, die auf dem genossenschaftlichen Gedanken basieren oder ausschließlich von Nutzerinnen finanziert werden, mit Medien großer kapitalistischer Konzerne (mit derzeit klaren Vorteilen für zweitere); schon heute gibt es frei zugängliche Computerprogramme neben jenen der kommerziellen Konkurrenz (etwa peertube gegenüber youtube); schon heute existiert das verträglichere Fair Trade neben den ausbeuterischsten Formen der Produktion.

Bei den und weiteren Beispielen, könnte man einwerfen, hat das am Gemeinwohl ausgerichtete, nicht am Gewinn orientierte das Nachsehen, also wird dies wahrscheinlich auch für die KI greifen. Doch das muss nicht so sein und werden.

Denn der Mensch hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber jedem Computersystem: er lebt. Und dieses Leben ist in seiner Ausrichtung und seinen Wege-Zielen unbestimmt, es ist nicht vorherbestimmt – zumindest ist dies im Menschen als Möglichkeit angelegt. Auch hier zeigt uns die Realität zwar: das wird mitnichten so verwirklicht. Schaut man sich etwa die Abermillionen Menschen (unter uns) an, die tagtäglich für den notwendigen Broterwerb in starren Strukturen im wahrsten Sinne des Wortes ‚funktionieren‘, könnte man die Hoffnung verlieren. Doch der Mensch hat die einzigartige Fähigkeit zu sagen: ja, und nein. Er und sie kann sich darauf besinnen, vor allem dann, wenn er (noch) in dazu geeigneten Bedingungen lebt, sich von gängigen und gängelnden Systemen zumindest teilweise abzukoppeln und Alternativen zu entwickeln. Er und sie kann sagen: ich nehme an etwas nicht teil. Vielleicht hilft ein Gedankenspiel: für alle, die sich darüber wundern, dass etwa bestimmte Sportler horrende Summen verdienen, hier die schlichte Wahrheit: würde von einem Tag auf den nächsten niemand mehr zuschauen, würden die Fortunes der Messis und Ronaldos dieser Welt prompt beginnen zu schrumpfen, zumindest nicht mehr wachsen. Ähnliches gilt, noch weit mehr, für politische und ökonomische Spiele von Eliten, deren Macht, Einfluss und auch Reichtum damit zusammenhängen, dass wir mitmachen, zuschauen, folgen. Klar ist es Utopie, was John Lennon einst sagte: stelle Dir vor, es ist Krieg – und niemand geht hin. Doch als Gedankenspiel kann dieser Ansatz nützlich sein: es kann dem Individuum helfen, in kritischen Situationen nein sagen zu können. Und es kann einem anderen helfen, sich von diesem Ersten inspirieren zu lassen. Da wären wir schon zwei – und das ist jedenfalls ein Anfang.

Wenn wir uns nun auf die KI als das neue Werkzeug der Stunde und Zukunft konzentrieren, ihm zu viel Zeit, Konzentration, Gedanken und Mühen schenken, vernachlässigen wir womöglich die andere KI – unsere Kultur-Intelligenz. Sie steckt in uns, in jedem Einzelnen, frei nach dem Künstler Joseph Beuys: jede(r) ist KulturmacherIn, auch und vor allem auch – ohne künstliche Zusätze. Unsere Kultur-Intelligenz speist sich seit jeher aus unseren Innenwelten, die merk- und denkwürdige Beziehungen und Fäden spinnen zu dem/der Anderen, dessen und deren Antlitz die eigentliche Energie- und Lebensquelle ist; dazu noch recht ökologisch, ohne Verbrauch fossiler Rohstoffe.

Nein, unser Problem mit der KI ist und wird nicht die nicht zu verleugnende und ausbreitende Existenz dieser Künstlichen Intelligenz sein. Unser Problem ist eines des Fokus’: „Worauf Du dich konzentrierst, das wächst, sagt ein altes buddhistisches Sprichwort. Wenn wir tief, lang und offen auf den Menschen in uns und in dem/der Anderen blicken, wenn wir darauf fokussieren und darauf vertrauen, dass diese beiden Quellen tiefer, wahrer, lebendiger, erstrebenswerter sind denn das Technologische, dann haben wir, wenn es um die künftigen Sprünge der neuen KI geht, vielleicht nicht nichts zu fürchten. Aber deutlich weniger und anders, als wir denken.

Die KI ist angesichts der Unermesslichkeit des Menschen, seines unermesslichen und unvorherbestimmten Potenzials, ein kleiner Wurm – ohne den Würmern zu nahe treten zu wollen. Denn auch sie sind in ihrer unbegreiflichen Grazilität und Schönheit um Welten näher an der ungreifbaren Wahrheit, als es eine jede KI des Jetzt und Morgen sein wird.

 
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Die transformierende Energie
Musik ist Geheimnis, Ausdruck der Unendlichkeit des Seienden, ungreifbar zeitlose Nicht-Materie – und kosmischer Spiegel des inneren Geistes des Menschen. Selbst in schlichten Formen - Musik birgt transformatives Potenzial. Von Jan Opielka
 
Es ist wohl 28 Jahre her, da ich dieses seltsam-schöne Stück erstmals im Radio hörte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was es genau war, das mich damals an dem sich allmählich entfächernden englischen Lied so fesselte. Der dramatische Aufbau von Vorspiel, Strophe und Refrain, die ohne Brüche ineinander über floßen? Das seltsame Motiv im Hintergrund, gespielt auf einem panflötenähnlichen Instrument? Oder diese eindringliche Stimme der Sängerin, die von einem schmerzhaften Gefühl zu berichten schien? Wie auch immer: der Song betörte mich, er schien mir eine geheime Tür zu einem Geheimnis aufzustoßen, das mein Verstand nicht fasste. Der Song spielte schmerzhaft-schön an einer bislang nicht gekannten Saite in mir. Als er auszuklingen begann, stellte ich das Radio noch lauter, um zu erfahren, wer und was mich soeben für eine fünfminütige Ewigkeit in eine unerhört andere Welt versetzt hatte. Doch niemand sagte etwas. Ich fiel von einem nächtlich vibrierenden Stern in den dumpfen Missklang der Erde. Ich war berauscht und enttäuscht, und ich wäre es noch mehr gewesen, hätte ich gewusst, dass es acht Jahre dauern würde, bis ich den Song wiederhören würde. Erneut unerkannt.

Was ist Musik?
Was ist Musik in ihrem Kern? Existiert Musik überhaupt wie andere Dinge existieren, wo ihr Klingen doch immer nur im Moment vernehmbar ist? Und wenn sie 'existiert' – warum sind ihrer so viele? Man kann über Musik sprechen, sie selbst aber kann man nicht aussprechen“, schreibt der Komponist und Musikwissenschaftler Philippe Manoury. Was aber ist ein 'etwas', das man „nicht aussprechen“ kann? Was auch immer es ist – dieses Unaussprechliche ist für mich, und wohl nicht nur mich, in entscheidenden Momenten Rettung gewesen – vielleicht vor dem Schlimmsten. Musik war mir oftmals jenes weitgespannte Netz, in das man fällt, wenn es gefühlt nicht tiefer geht. Weil sie es war, es sein konnte, muss sie doch etwas in sich tragen, etwas sein, das weit über das rational Fassbare, das Unterhaltende hinausgeht. Vielleicht ist – um ein Zitat John Lennons zu paraphrasieren – Musik dasjenige, „was passiert, während du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen“?

Das Geheimnis der Musik, so denke ich heute, liegt in den weiten Sphären des uns umgebenden und uns zugleich öffnenden Kosmos' verborgen. „Music of the spheres“, die Musik der Sphären, so hat der britische Schriftsteller Jamie James eines seiner Bücher betitelt, in dem er die Entwicklung der Musik der 'westlichen' Hemisphäre innerhalb der letzten 2500 Jahre nachzeichnet. Einst, schreibt James, galt die Existenz von Musik und von Klang als gleichbedeutend mit der Existenz des Göttlichen, des universell Letztgültigen, und ja, der Perfektion in der Welt. Musik war, angefangen bei der mythenhaften Figur des Pythagoras – griechischer Philosoph und Gründer einer religiös-philosophischen Bewegung – nicht nur Ausdruck von etwas. Sie war das Sein als solches; das 'Große Thema', wie James schreibt. Dieses Große Thema ist der „Glaube, dass der Kosmos ein erhaben harmonierendes System ist, von einer Höchsten Intelligenz geleitet, und dass der Mensch darin einen vorbestimmten und ewigen Platz einnimmt“.

Um zu verdeutlichen, was damit gemeint sei, stellt James einen Vergleich zwischen der Sprache und der Musik auf: „Wenn wir das Allegro einer Mozart-Symphonie hören und die Performace lebendig und innig ist, kreiert es in uns in der Tat die Empfindung von Freude. Es ist wahr, dass Musik eine Form der symbolischen Sprache ist, es ist jedoch eine komplett andere Art als der Symbolismus der Sprache.“ Denn eine wortlose Mozart-Symphonie „schöpft Freude, anstatt dass sie uns über die Freude erzählt. Die Musik ist der Bereich der Freude. Wie ist dies möglich? Die Griechen kannten die Antwort: Musik und die menschliche Seele sind beides Aspekte des Ewigen.“ Daher auch, so James, können Menschen etwa nach einem Konzertbesuch von „erhabenen und transzendenten Erfahrungen“ sprechen. Und auch wenn diese Beschreibungen heutzutage mitunter wie leere Worthülsen geäußert würden, erwüchsen sie in ihrem authentischen Kern dennoch „aus einem tief gelagerten menschlichen Bedürfnis, eine Verbindung zum Absoluten zu fühlen, die phänomenale Welt zu transzendieren“.

Musik ist in dieser Perspektive also Ausdruck des Göttlichen im Sein, ein akustisch in Zeit und Raum existierendes, und zugleich nicht greifbares Abbild der nur ahnbaren Perfektion des Kosmos. Mit wissenschaftlichen Mitteln ist diese Dimension der Musik nur insofern fassbar, inwiefern die Wissenschaft ein Kriterium als Realität akzeptieren kann, das sie bislang als Phantasma, als Hirngespinst verwirft: die Realität der mystischen Erfahrung. Horch, hör' das Wehklagen des Seemanns / Rieche das Meer, fühle den Himmel / Lass deine Seele, deinen Geist fliegen / Hinein in die Mystik“, singt der nordirische Musiker Van Morrison.

Doch selbst wenn wir das Ewige in der Musik zu erkennen glauben, so hat der sie konstituierende Klang als solcher „keinen Bestand in dieser Welt – er verflüchtigt sich zur Stille“, schreibt der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim, Gründer und Leiter des israelisch-arabischen Orchesters West-Eastern Divan. Und weil „jeder vom Menschen hervorgebrachte Ton etwas Menschliches an sich hat, teilt sich einem beim Verstummen eines jeden Tons eine Ahnung vom Tod mit.“ Der Tod jedoch nicht als Ende, sondern, so könnte man sagen, als ultimativer Grenzbereich, als Transitzone, von der Musik akustisch vernehmbar gemacht – in ihrem Ausklang, und auch in ihrem Beginn. Barenboim: „Der Apostel Johannes sagt: 'Am Anfang war das Wort'. Goethes Faust sagt: 'Am Anfang war die Tat.' Vielleicht könnte man aber auch sagen: 'Am Anfang war der Klang'“. Musik indes, schreibt Philippe Manoury unbiblisch, ist „eine organisierte Form des Klanglichen“, sie bilde Formen, die sich „vom Chaos abheben und schließlich einen Sinn erhalten“. Bestimmte Klänge, sagt Manoury, sind indes „mit Geschichten aufgeladen; die Geschichten sind in gewisser Weise Erzählungen von ihrer Geburt. Die Klänge besitzen jedoch auch ein geheimes, verborgenes Leben, eine innere Natur.“ Diese 'innere Natur' der Klänge ist es, die die einen als physikalisch klar zu definierende Größe sehen, andere wiederum in ihr das Abbild der Welt zu erkennen glauben – als klangvolle Partikel der Schöpfung, oder, wie Pythagoras es sah, als „menschliche Musik“, die in jedem Körper in Verbindung mit der menschlichen Seele resoniere. Er und seinesgleichen hielten auch die „musica mundana“, die „Sphärenmusik“ für unumstößliche Realität – eine Musik, die der Kosmos und die Planeten für den Menschen nicht hörbar erzeugen.

Die Sphären der modernen Musik
Jenseits dieser spirituellen Sicht verweist James vor allem auf eine Geschichte, die auch für die heutige Musik in ihrer Gänze von Bedeutung wurde – von der Volksmusik über Pop bis zur Klassik. Laut der Legende „Pythagoras in der Schmiede“ habe dieser durch zufälliges Hören von Hämmern, die unterschiedliche, aber harmonierende Töne von sich gaben, die Intervalle entdeckt. Intervalle sind von immenser Bedeutung in der Musik, sie markieren den Höhenabstand zwischen zwei gleichzeitig oder nacheinander klingenden Tönen. Der weise Grieche legte in der Tat den Grundstein für die westliche Musik: die arithmetische Gesetzmäßigeit der Intervalle, bei denen die Quinte (Dominante) und die Quarte (Subdominante) als besonders harmonierend herausstechen. „Pythagoras entdeckte, dass die musikalischen Intervalle, die von den Hämmern erzeugt wurden, exakt equivalent zu den Verhältnissen zwischen den Hammer-Gewichten waren“, schreibt James. Fortan sahen die Pythagoreer „zwischen Zahlen, der Musik und dem Kosmos nicht bloße Übereinstimmungen – sie setzten sie gleich. Musik war Zahl, und der Kosmos war Musik.“

Doch nicht die Zahl, erst der Ton macht die Musik. Musikalische Töne schaffen durch ihre unterschiedliche Farbe, Intensität, Dauer und ihre Höhe eine Differenz, sie bringen gewissermaßen Ordnung in das kosmische Chaos. „Um Expressivität, eine Absicht oder gar ein Gefühl zu übermitteln, sind wir auf Tonhöhen angewiesen“, schreibt Manoury. „Der Sinn der Wörter bedarf nur des Geräuschs, um sich zu verbreiten; die Tonhöhen, die ihm eine Orientierung verleihen, können als Melodie gehört werden.“ Diese Tonhöhen, als Vielheit gleichzeitig oder nacheinander hörbar gemacht, werden so zu verdichteten Geschichten. Die Geschichten sind also den Tönen eingeschrieben – oder umgekehrt: den Geschichten sind Töne eingeschrieben. Eine Ahnung davon erhalten wir bereits, wenn wir ein Gedicht rezitieren: auf natürliche Weise variieren wir die Tonhöhe, in der Regel entsprechend dem Inhalt des Geschriebenen. Beim Schreiben meiner eigenen Musik habe ich, überaus schmerzhaft wie erhebend, ebenfalls erfahren, dass jeder wahrgenommenen Realität und jedem Empfinden ein Klang, eine Melodie, ein ganzes Stück innezuwohnen scheint. Dieses Empfinden indes kann vom Menschen lediglich zum Klingen gebracht werden – in diesem Sinne kann man Musik nicht aus dem Nichts ausdenken. Jedenfalls keine authentische. „Musik erzählt, wenn sie sich einer außermusikalischen Motivation verdankt, die in ein musikalisches Motiv verwandelt werden konnte“, schreibt der Komponist und Dramaturg Moritz Gagern.

Solche musikalischen Erzählungen sind auch in großen Teilen Grundlage der Populärmusik. Die Erzählung kann banal oder überzuckert-pathetisch sein – aber auch poetisch feinfühlig, mehrdeutig, engagiert, authentisch. Sie kann mit 'offenem Visier' daherkommen, fremde Werke und die Realität zitieren, die Intensität von Wort und Klang variieren. Letzteres gilt etwa für die meisten Stücke und ganze Alben Herbert Grönemeyers. Da wäre etwa sein „Stück vom Himmel“: „Warum in seinem Namen / Wir heißen selber auch / Wann stehen wir für unsere Dramen / Er wird viel zu oft gebraucht / … Ein Stück vom Himmel / Der Platz von Gott / Es gibt Milliarden Farben / Und jede ist ein eigenes Rot … / Dies ist mein Haus / Dies ist mein Ziel / Wer nichts beweist / Der beweist schon verdammt viel.“ Wer diese und weitere Zeilen hört und dabei das 'dritte Ohr' – jenes, das fähig ist, die Unendlichkeit zu vernehmen – spitzt, kommt kaum umhin, in ihnen eine Erhabenheit, eine verdichtete, ungreifbare Realität zu entdecken. „Etwas anderes als die Musik muß der Musik vorschweben, um eine musikalische Novelle, ein unerhörtes Ereignis zu werden“, schreibt Gagern. Ich komme nicht umhin, Stücke wie das eben zitierte, oder auch Lieder wie den „Weltenbrand“ von Konstantin Wecker als „unerhörte Ereignisse“ zu sehen. „Dem Ganzen entzweit, doch ganz / Auf dich gestellt / Bleibt nur dein brüchiger Tanz / Auf den Wogen der Welt / Und du erinnerst den Ton / Den großen Gesang / Dem vor Urzeiten schon / Dein Wesen entsprang.”

Die Authentizität und Tiefe solcher Musik erleben die Menschen in den letzten Jahrzehnten zunehmend in konzentrierter Form, auch auf mehrtägigen Festivals. Und deren wachsende Zahl geht nicht zufällig mit dem Rückgang religiös-kirchlicher Praktiken einher. Konzerte und Festivals werden von vielen, vor allem jungen Menschen, (oftmals unbewusst) als religiöse Erlebnisse wahrgenommen, wobei sie im besten Fall nicht in der Masse verschwimmen, sondern mit anderen Teilnehmenden ein Einheitserlebnis erfahren, das den in grauen Vorzeiten der Zivilisation ekstatisch erlebten Gemeinschaftsritualen entspricht. Sowohl Musik als auch Religion sind letztendlich dafür da, dem endlichen Wesen dabei zu helfen, unendlich zu werden”, schreibt Daniel Barenboim. Daher wird auch die Musik aufs Podest gehoben, wenn es darum geht, für den Frieden zu werben – wie etwa der Verein „Music for peace“ es tut. Ende 2020 will ein Vereinsensemble im islamischen Iran ganz und gar christliche Musik spielen: „Durch Musik, durch das Singen mit Freude wird der Gedanke eines friedlichen Miteinanders vermittelt”, sagt Maarten van Leer. „Wir singen die h-Moll-Messe von Bach. (...) Es ist eigentlich eine jauchzende Musik, die den Text der christlichen Messe benutzt, aber eine universale Aussage hat, über die Grenzen des christlichen Dogmas hinaus. Es wird etwas zutiefst Menschliches berührt.”

Hallelujah!
Zutiefst berührende Empfindungen müssen dabei nicht zwingend auf der Komplexität von klassischer oder barocker Musik beruhen. Musikalische Belege dafür gibt es etliche. Sie kennen sicherlich den Song „Hallelujah“ von Leonard Cohen? - Denjenigen, die ihn nicht kennen, kann ich ihn nur ans Herz legen. Es ist ein Song jenseits von Gut und Böse; von dieser Welt, und von woanders. Schon die Geschichte dieses 1984 erstmals veröffentlichten Liedes spricht für sich. 80 Strophen schrieb der im Jahr 2016 verstorbene Cohen, bevor er das Stück zum Abschluss brachte, das er dann aber im Laufe der Jahre immer wieder neu variierte. Cohen verzweifelte beinahe an dem Stück, er hämmerte mit seinem Kopf gegen den Boden, als er daran schrieb. „Diesen Song, diesen dringenden Song zu finden, kostete mich eine Menge Arbeit und eine Menge Schweiß.“

Doch was er „fand“, war und ist „unerhört“. „Hallelujah“ ist eine Symbiose zwischen bildgewaltiger Poesie, an biblischen Erzählungen orientiert, und ihrer musikalisch nur augenscheinlich schlichten Umsetzung. Denn die Schlichtheit des im 'einfachen' und grundlegenden C-Dur gefassten Songs ist nur vordergründig. Dies macht Cohen gleich mit der ersten Zeile deutlich, die direkt an die Entdeckung der Intervalle, der Quinte und der Quarte, durch Pythagoras anschließt. „I have heard there was a secret chord / that David played / and it pleased the Lord / but you don't really care for music, do ya?“ (Hab gehört, es gab diesen geheimen Akkord / den David spielte und der dem Herrn gefiel / Doch dir ist Musik egal, oder?”) Wenn uns die verborgene Tiefe der Musik einmal nicht egal ist, können wir das Geheimnis dessen entdecken, warum Cohens „Hallelujah“ – nach 1984 blieb der Song unbemerkt, erst die etlichen Coverversionen seit den 1990ern erhoben ihn zur Hymne – fortbestehen wird. Das Geheimnis? „It goes like this: / the fourth, the fifth / the minor fall and the mayor lift / the baffled king composing Hallelujah!“ – „Er geht so / den vierten, fünften / Moll nach unten, Dur nach oben / Der perplexe König komponiert: Hallelujah.”

Ich unterstelle Leonard Cohen keinen Narzissmus, doch mir scheint klar: er selbst ist der König im Stück, und als sein alter ego David nach jahrelangen Mühen das Geheimnis der Quarte und der Quinte entdeckte, da konnte er nicht anders: er musste das Geheimnis in Worte packen, die die gespielten Intervalle eins zu eins beschreiben, und anschließend kulminierend jauchzen: „Hallelujah!“ Die folgenden Verse sind wundervolle, bildhafte, pathetische und ironiesierende Paraphrasen seiner Geheimnisentdeckung. Sein Song ist einer jener wenigen, die nicht nur zu Evergreens, sondern zu 'ewigen Liedern' werden – er ist pure Schönheit, geht tiefer als so manches klassische Werk. Denn um Zeilen wie die Hallelujah-Verse ans Tageslicht hieven und sie in die ihnen eingeschriebene Musik betten zu können, braucht es wohl keinen musikalisch-virtuosen Genius. Sondern einen Menschen, der sich seiner Selbst und der Zerbrechlichkeit („the cold and broken Hallelujah“) ebenso bewusst ist wie Verbundenheit mit jenem Etwas oder Einem. „There's a crack, a crack in everything – that's where the light comes in“, singt er an anderer Stelle – „In allem ist ein Bruch / Von dort dringt das Licht herein“. Cohen erlebte viele Brüche, er sah viel Licht – doch seine Songs sind nicht Spiegel seiner Erlebnisse, sie werfen auch kein Licht auf sie. Die Songs selbst sind das Licht. „Es ist die Vertrautheit mit dem Fehlerhaften“, sagte er, „durch die wir unsere wahre Menschlichkeit, unsere wahre Verbindung zur göttlichen Inspiration erkennen.“

Das Geheimnis des Schlagers
Durch die Intervall-Entdeckung des Pythagoras und ihre meisterhaft-mystische Umsetzung etwa durch Cohen können wir auch nachvollziehen, warum nicht nur der Blues in seinem 12-taktigen Grundschema mit der Prime, der Quarte und Quinte operiert, sondern dies auch die meisten Schlagersongs etwa einer Helene Fischer, die auf Millionen Menschen eine Sogwirkung entfalten. Allein diese drei Intervalle, die ihnen entsprechenden Akkorde C, F, G (auch in andere Tonarten transponiert) und die über sie gelegten Melodien reichen, um schier unendlich viele Varianten der kosmischen Harmonien auch in schlichte Formen zu packen und die Herzen der Menschen in Schwingung zu versetzen. Denke ich die volkstümliche Musik, erklingt in meinem Kopf als erstes stets „Glückwunsch an die Braut“ der Zillerthaler Schürzenjäger – herzzereißend ist es, bitter-süß, melodramatisch, wenn auch überzuckert. „Ich wünsch dir Glück in deinem Leben / und einen Keller voller Wein / mögt ihr ihn stets mit Freude trinken / nur ladet mich halt auch mal ein.“ Erhaben sind diese Zeilen nicht, womöglich allzu naiv-eindeutig – aber authentisch, aus dem Leben vieler Menschen heraus sprechend, das sind sie allemal. Die Komposition kommt, wie könnte es anders sein, mit den drei genannten Grundakkorden aus, wenn sie auch in das etwas anders schwingende E-Dur gesetzt sind. Das gleiche Stück der Zillerthaler ließe sich im Übrigen auch als vibrierender Rocksong darbieten, und selbst ein klassisches, 'anspruchsvolles' Arrangement wäre möglich. Wir würden staunen, was da herauskäme. „Die zwölf Noten jeder Oktave”, sagte der Komponist Igor Stravinsky, „eröffnen uns Möglichkeiten, die der menschliche Geist niemals ausschöpfen wird.”

Unendlich
Ich muss wohl 27 Jahre alt gewesen sein, als ich endlich entdeckte, wie jener mystische Song aus der grauen Vorzeit meiner Pubertät hieß, und wer ihn schrieb. Es war ein Spätwerk aus dem Jahr 1982 und hieß: „The day before you came.“ Und die Band? Damit Sie als LeserIn auch ein wenig rätseln: die ersten beiden Buchstaben des Alphabets, jeweils mal zwei. Den Song könnte ich heute, Youtube und Spotify sei Dank, jederzeit hören – doch ich tue es nicht. Nur einmal alle paar Jahre, das reicht. Dann entfächert sich jeweils ein neues, kleines Geheimnis darin. Aktuell jenes: das Stück hat gar keinen Refrain, seine Dramaturgie fußt vielmehr auf der sich entfächernden Erzählung dessen, was einer Frau an jenem Tag wiederfuhr, bevor die Liebe zu ihr kam – sie erzählt es minutiös in Uhrzeiten, in Zahlen also. Da hätten wir wieder unseren Pythagoras.

Alle unter uns, die einen Zug zum Musikalischen oder zur musikalischen Schöpfung verspüren, aber glauben, dafür seien sie, warum auch immer, nicht geeignet, sollten den Gedanken des Komponisten Philippe Manoury in ihr Herz schließen. „Musik entsteht da, wo man bereit ist, sie zu empfangen.“ Jede menschliche Seele, eingetaucht in der Unendlichkeit des Kosmos, bietet dafür genügend Raum. Und Zeit.


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Juni 2019
erschienen in: Kritik und Aufklärung / Christ in der Gegenwart  

Langweile Dich
Was wir tun, wenn wir uns langweilend öffnen – und warum die heute negativ eingetrübte Langeweile in ihrem Kern schöpferisches Potenzial birgt. Von Jan Opielka



Der Stillstand

Es sind noch etwa 80 Kilometer bis Berlin, als der Zug an einem verregnetem Freitag plötzlich und mit Vehemenz mitten im Feld zum Stehen kommt. Ein Teil der Passagiere in dem halbleeren Großraum-Waggon hebt den Blick von ihren Smartphones, Zeitschriften und Büchern. Kaum jemand hatte zuvor mit seinen Sitznachbarn gesprochen, bis auf eine junge Mutter, die sich mit ihrer zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alten Tochter angeregt über deren gestrigen Sozialkunde-Unterricht austauschte. Auch in den ersten, lang gezogenen Minuten des Zugsstillstands, die im schalldichten Waggon eine wie aus der getakteten Zeit anmutende Atmosphäre des 'Was nun?' ausbreiten, redet niemand. Wenig später, kurz nachdem in den hinteren Reihen die ersten Beschwerden über „Gefängnisfenster“ zu hören sind, erklingt im Lautsprecher die Stimme des Zugbegleiters. „Aufgrund eines Personenschadens können wir unsere Fahrt auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen.“ Er sagt noch ein paar andere Worte, doch sie gehen in den sich nun allmählich erhebenden Stimmen der Passagiere unter. „Jetzt wird es öde und langweilig“, sagt ein älterer Mann, der sich später als Gottlieb Kowalski vorstellen wird, zu einer weitaus jüngeren Frau gegenüber, die bislang in ihr Buch vertieft war. „Da haben wir, anders als dieser Selige, ja mal ein Luxusleiden. Oder was meinen Sie?“



Luxusleiden“ Langeweile?

Sich zu Tode langweilen, sterbenslangweilig, die Langeweile vertreiben – allenthalben wird in unserer heutigen, postmodernen Zeit die Langeweile negativ konnotiert. Sie ist in unserer rationalistisch und zeitlich minutiös getakteten Welt ein Störfaktor, der das angeblich Wesentliche, das den Vorgaben von Markt, Wachstum und Zeit unterliegen soll, für eine unbestimmte Zeit illegitim zum Erliegen kommen lässt. Denn die Zeit – genauer: die alle Lebensbereiche durchdringende Zeitmessung – ist längst zum „Regime über das Ereignis“ geworden, wie der Essayist und Lyriker Volker Demuth schreibt. Bei dem so entstehenden „linearisierten Bewusstsein“ stehe „das aufgezählte Leben dem erzähltem Leben gegenüber, wie die gerade Linie dem Augenblick, von dem an manches oder alles eine andere Wendung nimmt“, so Demuth. Wie die oben beschriebene Zugfahrt, die durch ein tragisches Ereignis einen Einschnitt, eine Wendung markiert, natürlich für das Opfer und seine Nächste – aber womöglich auch für die aus der Zeittaktung gefallenen Passagiere. Sie werden in eine zuvor nicht geplante, unbestimmt lange Weile geworfen.

In der Tat entfächert erst die etymologische Zusammensetzung dieses im Deutschen wunderbaren Begriffs den versteckten Sinn, den verborgenen Kern des Zustands, oder vielmehr des Prozesses, der Langeweile. Denn die lange Weile ist zunächst einmal das, was die beiden sie bildenden Einzelworte beschreiben; eine Weile, die eben lang ist. Wobei nicht nur interessant ist, dass beim Auseinandernehmen des Begriffs die 'Weile' schlagartig ihren pejorativen Anstrich verliert, den sie in der 'Langeweile' noch mit sich schleppt. Vielmehr ist das Wort 'lang' das eigentlich entscheidende. Denn lang ist in diesem Zusammenhang zeitlich nicht bestimmt, es kann jegliche Zeitspanne umfassen – von einer Minute bis zur halben Ewigkeit. Und es ist wohl auch diese Unbestimmheit der Dauer der langen Weile, aus der das Beunruhigende, das Abstoßende an der Langeweile entspringt. „Warum haben wir keine Zeit? Inwiefern wollen wir keine Zeit verlieren? Weil wir sie brauchen und verwenden wollen. Wofür? Für unsere alltäglichen Beschäftigungen, deren Sklaven wir längst geworden sind?“, schrieb Martin Heidegger, der sich viel mit der Langeweile beschäftigt hat. Und Blaise Pascal brachte es auf den Punkt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ In der heutigen Zeit müssten wir nur noch hinzufügen: allein und ohne jegliche Gerätschaften der modernen Welt.

Dass die Langeweile in unserer modernen Zeit eine pejorative Bedeutung angenommen hat, liegt eben an der historischen Ära selbst: an der (Post)Moderne. „Vielleicht ist die Langeweile keine Erfindung der Moderne, aber in ihr grassiert sie”, so der Publizist Wilhelm Schmid. Sie grassiert so sehr, dass sie, wie es Daniel Hell, Professor für Klinische Psychiatrie, beschreibt, gar ein „wichtiger Wirtschaftsfaktor“ sei. „Was ginge der Ökonomie verloren, wenn nicht mehr gearbeitet würde, um der Langeweile zu entrinnen?“, fragt Hell. „Langeweile ist wohl jene Befindlichkeit, die moderne Menschen am meisten zu vermeiden und zu bekämpfen suchen. Da aber jede Form von Unterhaltung, ganz besonders die seichte Unterhaltung, nur kurzfristig wirkt und den Stachel der stets drohenden Langeweile nicht wirklich zu ziehen vermag, kann jener Industriezweig mit ständig anhaltendem Interesse rechnen.“ Zugleich seien immer neue Reize nötig, um keine Gewöhnung, keinen Überdruss aufkommen zu lassen, so Hell.

Groß ist vor diesem Hintergrund die Versuchung, all das Negative aufzulisten, dass die Langeweile mit sich bringt, und auszubreiten, warum Menschen in aller Regel nicht zugeben wollen, dass sie sich langweilen, weil es als Ausdruck dessen gilt, dass man nichts mit sich anzufangen weiß und Zeit verschwendet – denn im kollektiven Unterbewussten unserer christlich geprägten Kultur wird die Langeweile immer noch mit der Akedia, der Todsünde der Trägheit, assoziiert. Auch scheint es redlich, darauf hinzuweisen, dass die Langeweile tatsächlich auch Gefahren birgt, sie mit Aufmerksamkeitsstörungen und Suchtkrankheiten im Kontext steht – die Psychologie spricht inzwischen gar von „boreout“, wobei Unterforderung am Arbeitsplatz ebenso zu Krankheit und Stress führen kann, wie das „burnout“, das auf Überforderung weist.

Dennoch, wir wollen an dieser Stelle einmal bei der anderen, der schöpferischen Perspektive der Langeweile verweilen. Denn dass sich in der heutigen Zeit immer Menschen der 'Entschleunigung' als Gegenstück zur allseitigen Beschleunigung verschreiben, dass immer mehr Menschen die bewusste Einsamkeit und Stille der in der Tat still lebenden Natur und schweigender Berge suchen, dass Stillstand und Einkehr – stärker als in der Moderne – in der Postmoderne in wachsenden Kreisen nicht mehr verpönnt sind: all dies mag uns ein positives Anzeichen dafür sein, dass auch die Langeweile allmählich ihr Negativ-Image ablegt. Dass es dafür triftige Gründe gibt, dies wusste nicht erst Goethe, als er jenem Urzustand eine Liebeserklärung zuteil werden ließ. „Langeweile! Du bist Mutter der Musen.“

Hannah Arendt unterschied in ihrem Werk „Vita Activa“ den fundamentalen Prozess, der sich seit der Antike und dem Mittelalter auf eben jener Ebene, in der auch die Langeweile ihre Heimat hat, in langen Prozesswellen bis heute vollzogen hat. Dem aktiven Leben, der 'vita activa', in dem sich heutzutage das Gros der Lebensaktivitäten zumeist in nach außen gerichteten Handlungen vollzieht, stand laut Arendt einstmals die 'vita contemplativa' vor, als das bedeutendere, erhabenere und anzustrebende: es war jenes langsame, nach innen gerichtete Leben des Geistes. Was immer Körper und Seele bewegt, die äußeren wie die inneren Bewegungen des Sprechens und des Denkens müssen zur Ruhe kommen im Betrachten der Wahrheit“, schrieb Arendt. Die frühchristlichen Eremiten etwa, die den Rückzug aus der Welt sprichwörtlich machten, konnten davon viel erzählen, und einer der Altvätersprüche lautete: „Gehe zurück in deine Zelle und setze dich nieder; sie wird dich alles lehren.” Heute transformieren immer Menschen mit Hilfe der buddhistisch inspirierten Meditation die Langeweile, indem sie sich geradezu an ihren Kern anschmiegen, um ihn gleichsam aufzulösen, also: die Zeit als solche auflösen, um jenseits von ihr die reine, nicht wertende Anschauung zu erleben. Doch den Weg einer schöpferischen Langeweile könne man „nicht schnell, durch mentale Techniken womöglich beschleunigt, hinter sich bringen. Er gehört als Weg bereits zum Ziel. Das lehrt auch der spirituelle Erfahrungsschatz aller Hochreligionen“, schreibt Psychiater Hell.

In der Tat scheint die Langeweile gleichsam der Grund und Boden, auf den wir mitunter hart fallen, den wir aber zugleich bewusst wahrnehmen können. Frei nach René Descartes: Ich langweile mich, also bin ich! Denn die Langeweile ist eben nicht bloß die Leere, das Nichts. Es ist, wenn sie schon so erlebt wird, die bewusst erlebte Leere, das durchlebte Nichts, sie ist in mir als Seiendem. Und dass sie, die Langeweile, immer wieder, von unseren Kindestagen bis in die letzten Lebensabschnitte wahrgenommen wird, deutet auf ihre Beständigkeit, ihre reale Existenz, womöglich, worauf das Goethe-Zitat weist, auch auf ihren nicht unbedeutenden Anteil an der Unendlichkeit. Sie ähnelt dem Erleben, das wir spüren, wenn wir bis an die Grenzen des Möglichen ausgeatmet haben und das uns ein Gefühl vermitteln kann, hinter dieser Atemgrenze existiere noch etwas Tieferes, irdisch nicht atembares. Analog dazu deutet uns auch das Erleben der Langeweile einen Horizont, über den wir nicht blicken können, sie deutet auf etwas, das wir in unserer Erdgebundenheit vielleicht ahnen, aber nicht gänzlich verstehen können. Ob wir diesem Zustand nun entrinnen, ihn verdrängen wollen, oder aber ihn annehmen und seine Wirkung entfalten lassen – dies liegt in unserer freien Wahl.

Wann aber können wir von einer positiven Langeweile reden? Ganz subjektiv gesprochen:



ist sie etwa stets in jenem Moment des Transits erlebbar, in dem sich ein Gespräch mit einer nahen oder auch bis dato fernen Person wie mit einem Mal von einem langweiligen Alltagsplausch hin zu einem intensiven Dialog entfaltet, weil wir auf etwas Wesentliches stoßen, oder aber einer der Gesprächsteilnehmer sich dazu entschließt, bewusst über den „kleinen Plausch“, wie der small talk zurecht heißt, hinauszugehen und emporzusteigen zu jener Form von Dialog, in dem die Zeit als gemessene Zeit ihre Bedeutung, ihren Bezug zu unserem Bewusstsein einbüßt, das sich seinerseits zu wünschen beginnt, die Zeit möge doch bitte noch eine lange Weile andauern, und nicht derart schnell vergehen, wie wir es nur allzu häufig wünschen, oder dass lieber gleich der Teufel die Zeit holen solle, weil wir uns gerade in einem zeitlosen Dasein mit dem Anderen bewegen, das und der so anregend sind und unvorhersehbar im Ausgang, und dass wir, wenn wir uns dies klar machen, es uns den Atem und die Sprache zugleich verschlagen sollte...



Solche Gespräche etwa sind es, so meine ich, die nicht nur unsere Bedürfnisse der Begegnung mit dem Anderen und seinem Antlitz, seinem Angesicht stillen, die der französische-litauische Philosoph Emmanuel Levinas so fundamental beschrieb – sondern uns auch den Horizont öffnen, der von der negativen langen Weile aus zu sehen ist. Die Langeweile als Sprungbrett.

Heidegger, der Meister der Zeit-Dechiffrierung, unterscheidet dabei drei Zustände der Langeweile. Zum einen das „Gelangweilt sein von etwas“, das auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, zum anderen das „sich bei etwas langweilen“, wie etwa den erwähnten small talk. Die womöglich wichtigste Variante der Langeweile, die er als „Grundrauschen der Existenz“ beschreibt, ist laut Heidegger jedoch die vollkommen anonyme und existenzielle, der wir auch durch Handlungen nicht entkommen können. Dieses, sagt Heidegger, erleben wir als Stillstand – doch genau dieser Stillstand der Zeit war für ihn selbst Ausgangspunkt der Erkenntnis, dass es Zeit als objektive Zeit, als etwas Gegebenes, worin wir zeitlich sind, nicht gibt – sondern Zeit vielmehr erst durch Handeln, und sei es auch „nur“ durch das Denken, überhaupt erst hervorbringen, im übertragenen Sinne (Lebens-)Geschichten schreiben, seien sie nun klein oder auch größer. Der Philosoph Rüdiger Safranski bringt es auf den Punkt: „In der Langeweile merkst du, daß es nichts von Belang gibt, außer du tust es.“

Hier scheint die transformative Kraft der Langeweile zu liegen – in der Erkenntnis, das sie uns gleichsam auf den tiefsten Grund bringen kann, auf dem wir einen Schritt tun können. „In diesem Wiederanspringen des Selbst, das sich als Zeitgeber des Lebens zu sich selbst entschlossen und aus der Langeweile losgerissen hat, sieht Heidegger die existentielle Freiheit“, schreibt Gilbert Dietrich auf seinem lesenswerten Philosophieblog „Geist und Gegenwart“. Wenn wir diesen Transitpunkt einmal bewusst wahrnehmen, und uns dabei auf unser Empfinden im Zustand der Langeweile und der schöpferischen Handlung danach konzentrieren, können wir auch die Relativität der Zeit erleben, die Albert Einstein einmal augenzwinkernd so beschrieb: „Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.“

Auch die Langeweile – und Dinge sowie Handlungen, die wir als negativ langweilig erleben – ist dabei mitunter relativ. Wenn Kinder etwa die komplette Harry-Potter-Geschichte auf der Kinoleinwand gesehen haben, das kenne ich aus Erfahrung, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie die Lektüre des zu Grunde liegenden Buches (zumindest zu Beginn) als langweilig erleben werden – in Relation gesetzt zum impulsübertränkten Film. Denn beim Verfolgen der Buchstaben geschieht zunächst einmal weniger, als auf dem Bildschirm. Sobald sie jedoch die Geschichte und ihren Ablauf in ihre Innenwelt verlegen und dort die eigenen Bilder entstehen lassen, ist es sehr gut möglich, dass diese Langeweile sich alsbald verflüchtigt – am besten sollte die Lektüre ohnehin vor dem Filmschauen geschehen. Überhaupt scheint ein fundamentales Antidotum gegen die zersetzende Langeweile im Üben des Vertrauens auf das Eigene, auf das Innere, und den Wert desselben zu liegen. Wenn wir nicht an unserem inneren Wert – aber auch an unserer Kreativität, Kompetenz, an unseren Ideen – zweifeln, kann die Langeweile für Kinder wie für uns wohl selten zerstörerisch wirken.

Hinter der vordergründigen Leere der Langeweile scheint also etwas zu liegen, das sich erst nach einer langen Weile entfaltet. Für Gottesgläubige Menschen kann dies mit der Gewissheit einhergehen, dass man selbst angesichts eines tief empfundenen inneren Abgrunds letztlich „nicht tiefer fallen kann als in die Hand Gottes“, wie Margot Käßmann einst nach einem folgenreichen, für sie wohl alles andere als langweiligem Ereignis sagte. Doch selbst Atheisten und Agnostiker müssen an dem 'Nichts' nicht verzweifeln, wie der rumänische Philosoph Emil Cioran schrieb. „Auf dem Gipfel der Langeweile erfährt man den Sinn des Nichts, insofern ist dieses auch kein deprimierender Zustand, da es für einen Nicht-Gläubigen die Möglichkeit darstellt, das Absolute zu erfahren, so etwas wie den letzten Augenblick.“ Für Cioran bildet die Langeweile überhaupt erst den Beginn des Kosmos', der zu Beginn der Welt statisch in der „Langeweile der Selbstidentität“ verharrt habe, wie er in der „Gedankendämmerung“ schrieb. Überhaupt können wir, schreibt Cioran, Langeweile nur empfinden, weil sie eben am Beginn der Welt stand – als lange Dauer des Nicht-Geschehens, mit der der Kosmos gefüllt war. Wohl auch daher, meint er, können wir der „Leere der Zeit“ und der „Hohlheit des Herzens“ nicht entfliehen.

Tatsächlich scheint es, dass die Flucht aus oder vor der Langeweile prinzipiell vermieden werden sollte. Vielmehr scheint es sinnig, den durch sie bewirkten Gefühlszustand vertrauensvoll hinzunehmen, im Bewusstsein, dass er sich, hingenommen, in etwas anderes wandeln kann. Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel etwa hat sich, wie er sagt, als Kind stets gelangweilt, weil er nicht so gut wie seine Kumpels Fußball spielen konnte und häufig am Rand des Spielfelds stand – doch aus der so verursachten Langeweile heraus hat er zu Büchern gegriffen, die ihm den Reichtum des verfassten Wortes eröffneten, bis er schließlich selbst zum Schreibenden wurde. Wie viele Biographien es gibt, die die Langeweile zu solchen und ähnlichen Entdeckungen der Welt angestiftet hat, mag kaum gezählt werden. Klar scheint, dass die Transformation der Langeweile für Kinder, sofern sie einmal der äußeren Ablenkungen entledigt sind, ein vergleichsweise Leichteres ist – für eine längere Zeit in die Natur geworfen, verwandeln Kinder in aller Regel eine zunächst gespürte, öde Langeweile in spielerisch-entdeckende Zeitlosigkeit. Wir alle kennen dies wohl aus unserer eigenen Kindheit. Schwieriger ist es für uns Erwachsene, auch weil wir unsere kindliche Welt-Naivität allzu oft tief im Keller unseres Bewusstseins verstaut haben.

Und dennoch: gerade mit dem größeren Bewusstsein unseres gewachsenen Selbst kann die Transformation der Langeweile, ihre Umwandlung in die Muße oder auch in eine neue Handlung, die direkt mit der zuvor erlebten langen Weile zusammenhängt, eine neue Saat in unsere (persönliche) Welt austragen. Die durchlebte Langeweile kann uns Alternativen für das „Nichts“, das „Nicht-Können“, des „Nicht-Integriert-Sein“ und die empfundene Alternativlosigkeit des Status Quo eröffnen. In seinem Buch „Alles könnte anders sein“ etwa beschreibt der Sozialpsychologe Harald Welzer visionär die gemeinschaftliche Ausgestaltung der Zukunft – und dies scheint nötig. Wenn wir den heutigen Zeitgeist in den Wohlstandsregionen dieser Welt als ein in der negativen, von Konsumismus und Berechenbarkeit durchtränktes Verharren in der negativen langen Weile beschreiben, so ist laut Welzer „der Traum vom guten Leben die Voraussetzung, dafür einzutreten, dass die Ungerechtigkeit und die Destruktivität der menschlichen Lebensform erfolgreich weiter zivilisiert und eben nicht weiter vertieft werden“.

Für die schöpferische Annäherung an die Langeweile schlägt Psychiater Daniel Hell dabei die „Rhythmisierung des Lebens“ vor, einen „Wechsel von Tätigkeit und Muse, ein Vor und Zurück in vita activa und vita contemplativa“. Denn „erst wenn die Langeweile eine Suche initiiert, die dem Verweilen eine Chance gibt, kann eine Gegenwärtigkeit erfahren werden, die zeitlos scheint, weil die Zeit weder nach vorne drängt noch rückwärts zieht. Vielmehr öffnet sie sich dem Leben, wie es ist.“ Wenn wir uns jedoch der Langeweile hingeben oder sie uns ereilt, sollten wir sie freilich nicht im Sinne des rationalistischen Zeitgeistes angehen – das also etwas dabei herauskommen soll oder gar muss. Denn planbar ist ihr Verlauf und Ergebnis ohnehin nicht. Die Langeweile, schrieb Friedrich Nietzsche, ist „eine unangenehme Windstille der Seele – welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“. Zwar muss die Windstille nicht immer unangenehm sein, aber auch nicht immer ist die Fahrt danach glücklich, die Winde nicht immer lustig. Der Autor dieses Textes hat, dies bleibe nicht unerwähnt, große Angst vor dieser fehlenden Planbarkeit der Langeweile – ich fliehe immer wieder vor ihr. Doch künftig, hoffentlich, seltener.



Neue Weiterfahrt

Bis der Zug mit rund drei Stunden Verspätung im Hauptbahnhof der Kapitale eingefahren war, haben sich etliche der zuvor still sitzenden Passagiere in Dialoge verwickelt, deren Inhalt Stoff für etliche kleine Geschichten böte – wie jene der 13-Jährigen Anna, zu deren Dialog mit der Mama sich eine ältere Dame hinzugesellte, die dem Mädchen die Augen für die Bedeutung des politischen Engagements öffnete. Als sich indes der grauhaarige Herr Kowalski von der jungen Frau, die sich als Sarah vorgestellt hatte, verabschiedet, sagt diese: „Ich würde sie gerne zu einem Konzert einladen, das ich am Sonntag gebe. Ich spiele mit meinem Trio eigene Stücke, in eines davon habe ich Motive des Mozart-Requiems in D-Moll einfließen lassen – und von seiner Zauberflöte.“ Vielleicht, sagt Sarah, werde der 49-jährige Mann, der sich vor den Zug geworfen hatte – diese Information war online nach kurzer Zeit abrufbar – von irgendwo mithören. Sie habe jedenfalls lang und mühevoll an ihrem kleinen Werk gearbeitet. „Es ist lang, aber langweilig soll es nicht werden!“

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Juni 2019
erschienen in: Sozialismus, Juli 2019

Zum Tod des polnischen Sozialisten, Oppositionellen und Historikers Karol Modzelewski
Real praktizierender Utopist
Von Jan Opielka

Es war ein langes, mäanderndes, ereignisreiches Leben, das am 28. April dieses Jahres den letzten Atemzug nahm. Der polnische Intellektuelle und Oppositionelle Karol Modzelewski war, als er 81-jährig verstarb, ein erfüllter Mensch – der trotz Wandlungen bis zuletzt an seinen sozialistischen Idealen festgehalten hat. „Ich war Historiker, Rebell, ein Mensch jener „Solidarność“, die nicht mehr existiert. Ich hatte zwei Seelen – ich wollte humanistischer Forscher, Historiker sein. Aber als man zuschlagen musste, ja dann musste man eben“, sagte er im Jahr 2017. „Im Grunde habe ich alles im Leben rechtzeitig geschafft.“

Der 1937 in Moskau als Cyril Budniewicz und Kind russischer Eltern geborene Modzelewski gilt auch jenseits dieser Selbsteinschätzung als einer der wohl wirkmächtigsten Intellektuellen und zugleich politisch konsequentesten Aktivisten im Nachkriegspolen – und als wichtige Gallionsfigur der Opposition gegen das realsozialistische Regime, das er, paradoxerweise, von linken und sozialistischen Positionen aus bekämpfte. Mit acht Jahren nach Polen übergesiedelt, wuchs er im Laufe seines Lebens in jene Kreise hinein, die in der russischen und auch der polnischen Tradition als 'Intelligenzija' bezeichnet werden; Personen mit meist höherer Bildung, die sich zudem aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen – und sich politisch engagieren. Modzelewski repräsentiert in dieser Hinsicht dessen radikalen Archetypus, der sich eben vor allem in politisch mitunter gefährlicher Aktivität innerhalb autoritärer Regime vollends kristallisiert.

Denn lange achteinhalb Jahre – so lange saß der Sohn einer jüdischen Mutter für sein politisches Engagement in Gefängnissen, zwei Mal in den 1960er und frühen 1970er Jahren, ein drittes Mal nach der Ausrufung des Kriegsrechts Ende 1981, als Polens Staatsführung der ersten Solidarność-Bewegung auch angesichts eines möglichen Einmarsches von Sowjettruppen den Garaus machte. Dass Modzelewski, trotz dieser Haft-Triade, der Triade der Französischen Revolution bis zuletzt treu blieb, darauf weist auch ein in Polen weithin bekanntes Modzelewski-Bonmot: Als Lech Wałęsa 2008 bei einer Podiumsdiskussion sagte, man habe in und mit der Solidarność den Weg für den Kapitalismus ebnen müssen, weil es „keinen dritten Weg gibt“, antwortete der anwesende Modzelewski empört: „Ich denke, Lech Wałęsa war wohl der einzige, der damals an den Kapitalismus dachte. Ich habe ganz sicher nicht daran gedacht, und das aus vielen Gründen. Für den Kapitalismus hätte ich nicht nur keine achteinhalb Jahre, sondern nicht mal einen Monat oder eine Woche gesessen – weil er das nicht wert ist.“ Polen, sagte er häufig, habe zwar nach 1989 die Freiheit gewonnen: „Aber die Gleichheit und die Solidarität blieben auf der Strecke.“

In Kindheit und Jugend während der stalinistischen Zeit parteikommunistisch erzogen, verwarf er auch nach seiner allmählichen Abkehr vom Regime-Kommunismus und dem Aufdecken des Stalin-Terrors das Streben nach Gleichheit und Solidarität nicht – auch wegen seines Stiefvaters Zygmunt Modzelewski, der 1947-1951 Außenminister war. „Man kann sagen, dass ich Revolutionär in zweiter Generation war. Mein Vater war wirklicher Kommunist und versuchte im Polen der Zwischenkriegszeit unter Bergleuten (…) für die proletarische Revolution, an die er tief glaubte, zu kämpfen.“ Mit diesen Einflüssen im Gepäck, suchte auch der junge Modzelewski den intensiven Kontakt mit den arbeitenden Klassen. Als Geschichtsstudent arbeitete er in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, wirkte als Aktivist der kommunistischen Jugendvereinigung ZMP mit Arbeitervertretern der Warschauer Autofabrik FSO zusammen, lebte und arbeitete später als Häftling unter und mit Kriminellen. „In der Zeit, als ich in der Strafanstalt selbst schwere körperliche Arbeiten verrichtete, habe ich meine Neigung abgelegt, die Mühen der Arbeiterschaft zu poetisieren. Doch es blieb mir aus jener Zeit (…) die Achtung vor der physischen Arbeit sowie die Überzeugung, dass sie in nichts schlechter ist als die geistige Arbeit all jener, die eine höhere Bildung erlangen konnten.“

Jenseits dieser persönlichen Einstellung reflektierte Modzelewski den Stellenwert der Arbeitklasse im Marxismus später als „Mythos, der mit dem Mythos der proletarischen Revolution gekoppelt war”. Am Beispiel der bolschewistischen Revolution habe man ihn und seinesgleichen in der Volksrepublik Polen gelehrt, „dass das Proletariat nicht aus sich selbst heraus eine Kraft zum Umsturz des Kapitalismus wird, sondern dank der Missionsarbeit bewusster Intelektueller, die den revolutionären Geist in die Arbeiterklasse tragen.“ Diese Lehren, sagt er, seien „nicht umsonst gewesen, sie wurden für uns zum Kompass unseres praktischen Handelns, als wir selbst den Kampf gegen die kommunistische Diktatur aufnahmen. In diesem Fall also ist die Indoktrination dem System nicht gut bekommen.“ Erstmals fundamental geschah dies im Jahr 1964. Sein gemeinsam mit Jacek Kuroń verfasster „Offener Brief an die Partei“, an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) gerichtet – in die er 1957 beigetreten war und aus der er kurz vor dem 'Brief' rausgeworfen wurde gilt daher als das Aufbäumen gegen den erstarrenden Staatskommunismus, dessen Nomenklatura selbst eine priviligierte Klasse gebildet habe. Der Brief argumentierte nicht gegen den Sozialismus als solchen.

Seinerzeit brachte ihm die konsequent marxistisch verfasste Schrift, von der sich Modzelewski später als zu „doktrinär“ distanzierte, zweieinhalb Jahre Gefängnis ein, trug aber zugleich seinen Ruf als kluger Rebell ins Land, und auch über die Landesgrenzen bis hin zu den West-Protestlern des Jahres 1968. Daniel Cohn-Bendit, bei einem Gerichtsprozess nach dem Namen gefragt, sagte nur: 'Kuroń Modzelewski'. „Meine Intention war es zu zeigen, welche Qualität diese Opposition hatte, und welches Bewusstsein wir oder ich über Polen als einen totalitären Staat“, sagte Cohn-Bendit vor einigen Jahren. Dass Polen nach 1956, im Zuge der Entstalinisierung und der Tauwetterperiode unter PVAP-Chef Władysław Gomułka, totalitär war, dies verneinte Modzelewski später – schon aufgrund eigener Anklage- und Hafterfahrungen, die mitnichten mit stalinistischen Verhältnissen vergleichbar waren, wie er schrieb.

Nach seiner Entlassung 1967 war sein rebellischer Geist indes alles andere als gebrochen. Für die während des polnischen März 1968 protestierenden Studierenden war er eine der Leitfiguren. Er stellte sich erneut in die erste Schusslinie, prägte den Protestslogan „Unabhänigkeit ohne Zensur“, organisierte Demos gegen den Uni-Rausschmiss von sog. 'Komandosi'-Studierenden wie den heutigen Chef der liberalen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ Adam Michnik, die alsbald in einer antisemitischen Kampagne der Regierung als „zionistische fünfte Kolonne“ gebrandmarkt und großenteils aus dem Land gedrängt wurden. Modzelewski selbst landete 1969 erneut im Gefängnis. Als er dieses 1971 verließ, zog er sich weitgehend aus seiner Oppositionstätigkeit zurück, ging als Historiker nach Breslau, vertiefte sich ins Mittelalter.

Doch 1980 kam erneut die Zeit, als „man zuschlagen musste“Proteste in der Danziger Werft hatten sich aufgrund massiver ökonomischer Probleme und der Entlassung von widerständigen Arbeitern zugespitzt. Modzelewski, der „Sonntagspolitiker“, wie ihn sein enger Freund Kuroń später beschrieb, stellte sich wieder in die erste Reihe. Dass die als eine der bedeutendsten Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhunderts geltende „Solidarność” die Solidarität als säkulares Synonym für Brüderlichkeit aus der Triade der Französischen Revolution zum Namen hatte, war Modzelewskis Idee. „Mein wichtigster politischer Erfolg ist der 17. September 1980, die Bildung einer Gewerkschaft, mit ihrem Namen, und der Einfluss, den ich auf diese Gewerkschaft ausüben konnte, zunächst als Pressesprecher, und später, etwas weniger, als Mitglied der Landeskommission“, sagte er 2017. 1980 indes hatte er vehement dafür optiert, landesweit eine einzige Gewerkschaft zu bilden, und nicht, wie von vielen führenden Oppositionellen vorgeschlagen, separate regionale.

Bei der Solidarność der Jahre 1980/81, die er „in der Erinnerung, im Bauch, im Blut“ habe und die „das wohl wichtigste Erlebnis meines Lebens war“, konnte Modzelewski mithin nicht anders, als sie in geradezu romantische, erhabene Worte zu kleiden. „Die Revolution sprengt die rationalen Formeln von Politologen, denn sie ist ein gemeinschaftlicher und nicht alltäglicher Geisteszustand einer großen Masse von Menschen. Dieser Geisteszustand kommt nicht von nirgendwo, er erwächst aus der lange währenden Alltäglichkeit, doch er verneint sie, bildet einen Akt der Selbstbefreiung. Für einige zehntausend Arbeiter, die am 18. August 1980 die Danziger Werft und mit ihr verbündete Betriebe besetzten, und kurze Zeit später für hunderttausende Teilnehmer großer solidarischer Streiks im gesamten Land, sowie schließlich im September und Oktober für Millionen von Polen, die durch ihre eigenen Handlungen oder zumindest durch ihre Entscheidung zum Beitritt zur Gewerkschaft die große Solidarność schufenfür sie alle war das Schlagwort „Von Partei und Staat unabhängige Gewerkschaften“ wie eine Offenbarung der Freiheit, die das Volk auf die Barrikaden führt“, schreibt er in seiner 2014 erschienenen Autobiographie „Wir reiten die Stute der Geschichte zu Tode(nur auf Poln.). Das im Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht habe indes den Menschen und der Bewegung das Genick gebrochen. „Die große Solidarność der Jahre 1980-81 war eine gemeinschaftliche, egalitäre und im Grunde sozialistische Bewegung. Zwei Jahre nach Ausrufung des Kriegsrechts galt für die Untergrund-Solidarność keine dieser Beschreibungen mehr.“

Bei der Ausgestaltung der Wendezeit von 1989 und danach zählte Modzelewski nicht mehr zu den Hauptprotagonisten. Der links-gewerkschaftliche Flügel der Solidarność war geschwächt und wurde marginalisiert, demokratische Sozialisten wie Modzelewski in der Minderheit. Zwar konnte Modzelewski 1989 einen Sitz in der neu gebildeten 2. Parlamentskammer (Senat) erringen, doch er gehörte zu den nur wenigen, die sich den seit Herbst und Winter 1989/90 eingeführten, radikalen Reformen widersetzten. Er selbst gründete die Vereinigung „Solidarität der Arbeit“ als „Gruppe zur Verteidigung der Arbeiterinteressen“, die alsbald in der linken Partei Union der Arbeit (UP) aufging, die jedoch trotz ihres Achtungserfolgs bei den Parlamentswahlen 1993 auch als Teil der postkommunistischen Allianz der Demokratischen Linken (SLD) keinen entscheidenden Einfluss auf den neoliberalen Kurs Polens gen EG/EU und NATO nehmen konnte.

Denn unter Finanzminister Leszek Balcerowicz und unter Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) traten seit dem 1. Januar 1990 und danach eine Reihe von Gesetzen in Kraft, die einen „Kopfsprung in den Kapitalismus“ bedeuteten, eine heute als „Schocktherapie“ bezeichnete Politik ohne Rücksicht auf menschliche Kollateralschäden. Die Lebensmittelpreise wurden freigegeben, Staatsbetriebe per Gesetz benachteiligt, um sie für Privatisierungen freizugeben oder zu schließen, der Markt wurde für ausländische Produkte geöffnet, alle landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften kurzerhand geschlossen. Die bislang unbekannte Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf drei Millionen, Industrieproduktion und Inlandsprodukt brachen ebenso ein wie die schon zuvor geringe Kaufkraft – und zugleich rissen sich gewiefte Geschäftsleute, oft einstige kommunistische Kader, die Filetstücke an Staatsbetrieben unter den Nagel. „Der Mythos der Solidarność von 1980/81 wurde nach 1989 benutzt, um die Kräfte des gesellschaftlichen Widerstands angesichts der brutalen und radikalen Transformation in Polen zu betäuben. Er wurde benutzt und er wurde verschlissen. Was übrig blieb, war das Misstrauen gegenüber jenen Eliten, die diesen großen Systemwandel vollzogen haben“, sagte Modzelewski im Jahr 2018 im Gespräch. Daher auch der Erfolg der seit 2015 regierenden Recht und Gerechtigkeit (PiS). „Populisten konnten sagen: es kamen Diebe, sie belogen uns, haben uns alles entrissen, was wir hatten. Die großzügige Sozialpolitik der PiS ist daher eine Antwort auf die Schmerzen des degradierten Teils der Gesellschaft.“

Modzelewski engagierte sich seit den 1990er Jahren hie und da politisch, mit Erfolg etwa gegen ein geplantes Reprivatisierungsgesetz, das einst enteignete Besitzer von Immobilien großzügig entschädigen sollte. Doch er zog sich alsbald auf sein zweites Standbein, die Mediävistik, zurück, wurde Professor an der Universität von Warschau, später Vorstandsmitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN). Sein unter Mitelalter-Fachleuten auch im Ausland vielbeachtetes Werk „Barbarisches Europa“, das er neben der Arbeit an der Warschauer Alma Mater als „größten beruflichen Erfolg“ sah, zeichnet die gesellschaftlich-politische Entwicklung des Kontinents jenseits der christlichen und jüdischen Einflüsse nach. Zu den Verbindungen zwischen dem Marxismus und der Eschatologie hatte Modzelewski, der selbst nicht religiös war, indes eine pointierte Position. „Das christliche Denken kann als Wertesystem der Welt nicht ohne die eschatologische Vision des Reiches Gottes auf Erden auskommen. Nur im Glanze dieses künftigen Königreichs kann man all das Böse der Welt erblicken und anprangern. Die Marx'sche Kritik des Kapitalismus wäre ohne die utopische Vision einer klassenlosen Gesellschaft undenkbar, in der die Menschheit frei sein wird von jeglicher Ungerechtigkeit und Unterdrückung. (…) Der axiologische Horizont ist zwar nicht erreichbar, doch zugleich unabdingbar für die Schärfe der Sicht.“

In der Zeit nach der Krise von 2008 fanden Modzelewski gesellschaftliche Diagnosen wieder mehr Gehör. Ins Licht der breiteren Öffentlichkeit kehrte er 2014 zurück, als seine politische Autobiographie den renommiertesten polnischen Buchpreis NIKE gewann. Das leider nicht ins Deutsche übersetzte Buch ist ein Parforceritt über die Nachkriegsgeschichte Polens – auch wenn der Autor und Protagonist seinen Leserinnen und Lesern zum Schluss keinen anderen Hinweis geben kann, als den folgenden: Im Lichte meiner Erfahrungen ist Revolution entweder unmöglich, oder aber zu kostspielig, in jedem Fall endet sie nicht so, wie wir es gerne hätten. Der Revolutionär kann das nicht wissen. Das Unwissen beflügelt ihn, es erlaubt ihm, unmögliche Dinge zu tun, dank denen sich die Welt ändert. Er wird danach enttäuscht sein oder zumindest unzufrieden ob des Wandels, zu dem er beitrug – doch dies ist schon eine gänzlich andere Frage.“

In außerparlamentarischen linken Milieus gilt Modzelewski bis heute ungebrochen als Ikone – dies dürfte sich künftig noch verstärken. „Wenn ich schreibe, dass die größte lebende, moralische Autorität der Linken und überhaupt der polnischen Politik verstorben ist, dann werde ich sein Missfallen erregen“, schrieb der bekannte linke Publizist und Aktivist Slawomir Sierakowski in einem Nachruf. „Wir werden Sie vermissen, Herr Professor.“ In der Tat. Und vom Autor dieses Textes noch dies – mein Dank. An einen Meister.

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März 2019

Furcht und Zeit
Ein philosophischer Essay über die Abgründe des Wahrnehmens und das Prinzip des kommunikativen Tuns. Von Jan Opielka

Was ist die Zeit?“ – fragte der Junge seinen Papa. Dieser wusste zunächst nicht, was er antworten sollte. Da fragte er zurück: - „Was denkst Du denn, was sie ist?“ Der Junge machte seine Augen ganz weit auf, blickte sich kurz im Raum um, fragte sich nach innen, und sagte dann: - „Sie ist mir so fern, ich kann sie nicht in die Hand nehmen, manchmal läuft sie so schnell, und wenn sie mir weg flieht, fürchte ich mich.“ Sein Papa lächelte, dann griff er seine Hand. „Fühlst du jetzt, genau jetzt meine Berührung? Vielleicht ist in ihr auch die Zeit, die du so gerne greifen willst.“
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Zur rechten Zeit da sein, aus der Zeit fallen, die Zeit zurückdrehen, den Zeitgeist spüren, das Zeitliche segnen - in welcher Form auch immer: die Zeit und ihre Dimensionen in unserem Dasein sind es, die uns unsere Entfaltung jenseits des Tierischen ermöglichen – und uns gleichzeitig Furcht einflößen. Nur dem Menschen als Lebewesen dieser Erde ist es vergönnt, in Zeitdimensionen jenseits des Jetzt und der unmittelbar folgenden Zukunft, dem nächsten Moment, denken und fühlen zu können. Wir Menschen denken im Jetzt, aber zugleich auch in der so nahen und der doch sehr fernen Zeitferne, wir planen sie akribisch auf Jahre hinaus, gehen Kreditverträge mit ungeheuerlich langen Laufzeiten ein, investieren in die Zukunft, an deren künftiger Realisierung wir heute unsere Handlungen ausrichten und uns binden. Weil sie meist so nicht kommen, verursachen sie Angst in uns. 
 
Ende der vermessenen Geschichte 
 
In den heutigen Zeiten wird die Furcht ein noch größerer Gegner – ihr natürliches Entstehen wird durch die Widersprüche des Spätkapitalismus, der sein Netz über die gesamte Welt ausgebreitet und diese ins Extreme polarisiert hat, noch radikal verstärkt. Wie Volker Demuth in seinem Beitrag „Dem Ufer nah“ in den Lettre International eindrücklich darlegt, sind wir in unseren Leben inzwischen so sehr dem „Zeit-Regime“ untergeordnet, dass etwa „Europas doppelte Buchführung der Zeit, Mythos und Geschichte, sich in den feinen Maschen der Minuten und Sekunden aufgelöst (hat)“. Die Zeit – genauer: die alle Lebensbereiche durchdringende Zeitmessung – ist zum „Regime über das Ereignis“ geworden. Bei dem so entstehenden „linearisierten Bewusstsein“ stehe „das aufgezählte Leben dem erzähltem Leben gegenüber, wie die gerade Linie dem Augenblick, von dem an manches oder alles eine andere Wendung nimmt“, schreibt Demuth1. Aufgezähltes Leben steht nicht nur vom Begriff her dem „Zählen“ nahe, es ist ein Kernelement der kapitalistisch vermessenen und damit gezählten Welt – gezählt und eingeordnet in der Möglichkeit, wie weit jedes einzelne Stück von ihr verwertet werden kann. Unsere so geprägten Gesellschaften wollen in diesem Geiste auch die Zukunft absehbar vermessen – doch dies scheint ein Ding der Unmöglichkeit. 
 
Wie sicher werden etwa die Rente, unsere Klimaerde, unsere Landesgrenzen nach einer linearen Ereignisfolge im Jahr 2048 sein? Ganz sicher, ziemlich sicher, oder vielleicht ganz und gar unsicher? Immer weniger Menschen glauben, und das wohl durchaus zu Recht, dass ein wahrscheinliches Zukunftsszenario heute für die Zeit in zehn, geschweige denn in 30 Jahren möglich ist.

Wir können die Zukunft nicht planen. Und doch haben wir in den liberalen Demokratien vor allem in den letzten Jahrzehnten das Gefühl entwickelt, dass wir es könnten. Haben nicht alle Staatsväter der westlich-kapitalistischen Welt stets betont, der Sozialismus werde eines Tages eine krachende Niederlage erleiden, und das im weitesten Sinne Westliche werde – triumphieren? Und als es scheinbar so kam – ist es da nicht verständlich, dass viele Menschen tatsächlich an das Ende der Geschichte glaubten, in deren Richtung sie sie doch mehr oder weniger aktiv schaffend und leistend mitgelenkt haben? Ein großes Selbstbewusstsein entsteht, wenn ein ganzes Lebens- und Gesellschaftssystem, dessen Teil ich bin, scheinbar obsiegt – und diesen Sieg vorher auch noch vorausgesagt hat.
Nun zeigen uns aber die Entwicklungen der letzten drei Dekaden seit dem Systemumbruch im Osten, dass wir die Zukunft wohl etwas anders geplant haben, als sie nun gekommen ist. Und der Systemumbruch im Osten ist der Knackpunkt, aus europäischer Sicht zumal. Denn der Zusammenbruch des sowjetisch dominierten Sozialismus beeinflusste auch den Westen massiv, weil politische Kräfte auf der siegreichen marktwirtschaftlichen Seite des Eisernen Vorhangs seit 1989 wegen der kläglich gescheiterten Links-Alternative immer selbstbewusster die wohlfahrtsstaatlichen Anker lösen konnten. Die große Bremsung der seit den 1980ern in den USA und Großbritannien und etwas später in Kontinentaleuropa beschleunigten Lokomotive des Neoliberalismus kam 2008 mit der Lehman-Pleite und der darauf folgenden Finanzkrise. Hatte es nicht schon zuvor, nach dem Ende des Kalten Krieges, eine Friedensdividende geben sollen? Stattdessen gab und gibt es nicht nur immer mehr soziale Ungerechtigkeit, sondern auch mehr Kriege, mehr Notleidende, mehr Flüchtlinge, mehr Verwerfungen infolge des immer unbändiger agierenden Kapitalismus in seiner neoliberalen Variante. 
 
Von den fatalen Folgen, die uns auf dieser brüchigen Basis in naher Zukunft ereilen könnten, scheinen immer mehr Menschen eine Ahnung zu bekommen. Denn wenn auf den allgemeinen Rechtsruck, der bereits in derzeit relativer wirtschaftlicher Stabilität gedeihen kann, die sich immer stärker abzeichnende Katastrophe an den Finanzmärkten aufprallt, wird dies dieses Mal nicht mehr nur die Weltwirtschaft bis ins Mark erschüttern. Geld gibt es an den Finanzmärkten heute quasi kostenlos – daher die auf der Zeitachse beschleunigende Dynamik an den Börsen dieser Welt, die in den letzten Jahren tendenziell so kräftig nach oben zeigte. Die Entschleunigung, die sich immer deutlicher am Horizont abzeichnet, wird keine angenehme Bremsung sein – eher das genaue Gegenteil. Es wird brutal. Die politische Rechte wird dann, und dies wird der große Unterschied zu 2008 sein, ihr weitaus hässlicheres Antlitz zeigen, als sie es derzeit schon tut. 
 
Was wird also passieren, wenn eine schwere Weltwirtschaftskrise die rechten und zugleich kompromisslos kapitalistischen Parteien weltflächendeckend an die Macht bringen wird, wie sie es derzeit tendenziell tut – mit den infiltrierenden Cyber-Werkzeugen der Manipulation an der Hand, mit Millionen von geladenen Waffen in den Arsenalen und an neuen alten Fronten, mit den ungestillten archaischen Stammes- und Machtsehnsüchten, mit den starren Grenzen in den Köpfen? Und konfrontiert mit der aus allen zerrissenen und zerbombten Ländern der Welt ins westliche Gesicht wehenden Klage: „Ihr bringt uns Ausbeutung, Krieg und Elend, wir hassen Euch!“ Diesen Schrei der Verdammten dieser Erde werden die Rechten nicht hören. Weil sie ihn zubomben werden, wie sie es jetzt bereits tun. Mit dem Iran als nächstem Ziel. Und dass dieses so kommen würde, das haben die US-Machthaber schon mit ihrem Kriegstanz in Saudi-Arabien im Mai 2017 angekündigt, kurz nachdem sie einen der größten Rüstungsdeals der Weltgeschichte, mit einem seinerzeitigen Umfang von mehr als 100 Milliarden US-Dollar, unterzeichnet hatten. Heute ist Saudi-Arabien, als Aggressor im benachbarten Jemen und als staatlicher Auftragsmörder von Menschen, die ihre Freiheit leben und äußern wollen, zu jener fleischfressenden Pflanze emporgewachsen, zu der das Königreich durch die Vereinigten Staaten und ihren industriell-militärischen Komplex gezüchtet wurde. Die Welt brennt, und es droht, ein noch größerer Flächenbrand zu werden. 
 
Der Fetisch der Gewalt 
 
Zugegeben, ein düsteres Szenario, mit dem wir wieder bei der Zeitdimension des Menschen und seines Denkens sind, der so eine Zukunft wohl ganz und gar nicht will – viele unter uns sie aber so oder ähnlich intuitiv vorausahnen – und sich manche eine Apokalypse tatsächlich herbeisehnen, offenbar im Geiste des 'Mythos der Gewalt', wie ihn vor über 100 Jahren der französische Sozialphilosoph Georges Sorel entfaltete. Sorels Ideen, von dem sich einst die Faschisten um Benito Mussolini inspirieren ließen, werden heute wieder bei der Neuen Rechten wirkmächtig, auch in der Alternative für Deutschland (AfD), wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe in seinem jüngsten Buch, „1968: Zeiten des Übergangs“, schreibt. Und Sorels Ideen haben es in sich. „Antibürgerliches Denken, Vernunftkritik – nicht in der Tradition von Marx und Engels, sondern von Nietzsche und Bergson - verbindet sich hier mit der Verherrlichung eines 'Heroismus der Tat', einer Ästhetisierung der Gewalt und des politischen Aktivismus“, schreibt Deppe. 
 
Es ist zum einen dieser auf die jeweiligen nationalen Legenden und Mythen bezogener 'Heroismus der Tat', der immer mehr Menschen in ihrer politischen Ausrichtung nach rechts zieht. Die Menschen sehnen sich nach Taten, eindeutigen Taten und Handlungen, die ihr Leben in Spannung versetzen. Bisweilen verschwimmt es in der „flüssigen Moderne“, wie es der polnische Soziologe Zygmunt Bauman fasste. Bauman kennzeichnete die damit verbundenen, diffusen Ängste zugleich als „flüssige Ängste“. Die Anker vor allzu viel Flüssig-Unbestimmtem suchen immer mehr Menschen nun im nationalen Rückzug, dort soll es sicherer, überschaubarer, vertrauter sein, um sich der globalen Verworrenheit und all der mit ihr verbundenen Gefahren zu entledigen. 
 
Die Einzigartigkeit der menschlichen Zeitempfindung liegt darin, dass er das Kommende – ebenso wie das Vergangene, wenn auch etwas anders – nicht nur denken, sondern auch fühlen kann. Weil wir als Menschen die Zukunftserwartung oder verschiedene ihrer Optionen nicht nur denken, sondern auch fühlen können, empfinden viele von uns beim Anblick der heutigen Welt und korreliert mit dem Gedanken, was aus ihr bald wohl noch werden könnte, kein Wohlgefühl, sondern Bitterkeit. Und Furcht, in ihrer kleineren Form, der Angst. 
 
Es ist jedoch gerade und in der Regel nicht so sehr die konkret gelebte Gegenwart, die uns Angst macht. Es ist das Vorfühlen einer möglichen Zukunft. Denn wie viele von all jenen unter uns, die sich etwa durch Flüchtlinge bedroht fühlen, haben tatsächlich eine Bedrohungssituation mit einem Flüchtling persönlich erlebt? All die anderen unter uns quält, verstärkt durch Einflüsterung von außen und rechts, die Angst vor einer Zukunft, in der sich diese Bedrohung tatsächlich am eigenen Leibe realisieren könnte. In dieser Weise bindet uns unsere Zukunftsprojektion an negative Gefühle – und diese negativen Gefühle treiben in der Folge unser Handeln in eine ihnen entsprechende Richtung der Angst, verstärkt durch die digitale Infiltration und ein Übermaß an Informationen, unter denen die wahren und die falschen immer schwerer zu unterscheiden sind. Der 2003 verstorbene Philosoph und Kulturkritiker Neil Postman schrieb in seinem seinerzeit visionären Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ (1985) in Bezug auf die Zukunftsvisionen von George Orwell („1984“) und Aldous Huxley („Schöne Neue Welt“) folgende Worte: „Orwell hatte Angst, dass die Wahrheit vor uns verborgen gehalten würde. Huxley hatte Angst, dass die Wahrheit im Meer des Irrelevanten etrinken würde. (…) Orwell fürchtete diejenigen, die uns Informationen vorenthalten würden. Huxley fürchtete diejenigen, die uns so viel geben würden, dass wir auf Passivität und Egoismus reduziert würden.“
 
Hoher Berg im Innenraum

Die Bindung an die Zeitdimensionen unseres Denkens bestimmt im erheblichen Maße unsere Empfindung des Jetzt – das tatsächlich das absolut Entgegengesetzte eben dieses Jetzt-Gefühls sein kann. Denn wir können am schönsten Berggipfel der Alpen vor der rot untergehenden Sonne stehen, die kommenden Sterne erahnen, das Weite einmal fassen können, die Menschheit in einem erhabenen Moment als Einheit spüren – all dieses Wahrnehmen aber von dem (Zukunfts)Gedanken gefangen nehmen lassen, dass wir nach Ankunft daheim den Job verlieren werden. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich dies auch eintreffen mag, wird unser großartiger Moment des Jetzt – auf einem Gipfel thronen, tief einatmen, die Einsamkeit des großen Daseins als Windhauch in den Haaren spüren, den Liebsten oder die Liebste umarmen zu können – durch einen abstrakten Gedanken einer nicht vorhandenen Zukunft infiltriert. Die Angst übernimmt also das Kommando, anstatt dass die Tiefen- und Höhenerfahrung des Momentes uns Auftrieb und Mut gibt für das, was da kommen möge – auch den Jobverlust. „Ich hatte das bescheidene Glück, armselig aufzuwachsen“, schrieb die kluge, gewitzte Publizistin Mely Kiyak vor einer Dekade, als sie ihrem Vater, einem einfachen, stolzen Arbeiter und sturen, liebenden Papa, ein essayistisches Erinnerungsstück reichte, auf dem geschrieben stand: „Nur Mut“2. „Im Gegensatz zu einigen meiner Altersgenossen ist das Milieu, in das ich zurückfallen könnte, mir wohl vertraut. Sollte ich den bescheidenen Wohlstand der Mittelschicht verlieren, habe ich mich immerhin an die feine Parfümierung von Stokolan (Pflegecreme für besonders beanspruchte Hände, J.O.) gewöhnt. Ich habe keine Angst vor der Zukunft.“ 
 
Eine mythische Ebene unseres in der Zeit eingebetteten Ersteigens der Berge und damit dem Lösen aus der Angst zeichnet indes Clarissa Pinkola Estes in ihrem meisterlich märchenhaften Buch „Die Wolfsfrau“. „Im Buddhismus“, schreibt die Psychoanalytykerin und Märchensammlerin, „gibt es den nyübu-Brauch, der darin besteht, auf einen hohen Berg zu steigen, um sich selbst zu verstehen und die Verbindung mit dem Großen zu erneuern. Es ist ein sehr altes, mit der Vorbereitung der Erde, dem Säen und Ernten verbundenes Ritual. Wenn es nur möglich ist, sollten wir einen echten Berg ersteigen, doch es gibt Berge auch in der psychischen Welt, im Unbewussten. (…) Die höchsten Abschnitte des Berges symbolisieren, dass wir intensiv Wissen erlangen, die Luft ist dort dünn, wir brauchen Ausdauer und Disziplin, um die Aufgaben zu meistern.“3
 
Die von Estes beschriebenen Gipfelmomente, die uns gegen die Angst stärken, finden nicht nur auf Bergen statt. Leider ist es so, dass viele von uns zu wenige Gipfelerfahrungen persönlich realisieren – weil wir nicht wollen oder nicht können oder nicht dürfen. Häufig werden wir dabei durch äußere Umstände gehindert, punktuell oder chronisch, wie etwa Menschen, die auf den unteren Stufen der sozialen Leiter stehen und auf eben jenen Stufen arbeiten - und Arbeit, vielmehr der Charakter der Arbeit und die damit verbundenen Beziehungen, werden heute in ihrer bewusstseinsschaffenden und politischen Dimension unterschätzt. Die Arbeitszeit und der Inhalt der Tätigkeiten allzu vieler Menschen sind kaum von Gipfelerfahrungen geprägt, sie verschleißen sich jeden Tag an der Herstellung von Produkten oder dem Verkauf von Dienstleistungen, mit denen sie sich ganz und gar nicht identifizieren können – sie, als einzigartige Personen und Menschen. Von diesen täglich mindestens acht Stunden Lebenserfahrungen geprägt wird die restliche Tageszeit von vielen Menschen auch tatsächlich als eine solche Resterfahrung wahrgenommen, und in ihr wird die Motivation für etwaige aktive und werthaltige Gipfelerfahrungen durch das vorherige In-Arbeit-Sein-und-nicht-bei-sich-Sein, das unser Bewusstsein prägt, minimiert. Hunderte Millionen, eher Milliarden von Menschen in den Armuts- und Kriegsregionen dieser Welt sind dabei angesichts ihrer katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen weit davon entfernt, über lebensbereichernde Gipfelstürme auch nur nachdenken zu können, so dass ihnen verständlicherweise das, was wir im Westen als Norm leben können, bereits als dekadent erscheinen muss.

Das Drama als Spiel und Spektakel

Wir vergleichsweise deutlich besser Situierten in der symbolischen westlichen Hemisphäre erhalten in unserer „Freizeit“ Ersatz – die Welt bietet Gipfelerfahrungen in konzentrierter, aber passiver, verabreichter Form: wir konsumieren die Gipfelerfahrungen anderer, die wir als Stars sehen, etwa der Sportlerinnen und Sportler. Dies hat der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner meisterhaften Erzählung „Du musst Dein Leben ändern“ eindrücklich gezeigt. Die Athletinnen und Athleten zeigen uns (symbolisch auch durch ihre Körper ausgedrückt), was auch wir erreichen können, wenn wir, die Zeit im Jetzt und der Zukunft nutzen würden, uns ebenfalls auf eine Sache voll zu konzentrieren, alles auf eine Karte zu setzen und dadurch den Gipfel zu erklimmen – Weltmeister zu werden, Champion der Herzen, tragischer Held, unbeugsame Kämpferin. Die Sportlerinnen und Sportler, und nicht nur sie, spielen uns jene Rollen oder vielmehr jene Tugenden vor, die wir selbst auch gerne spielen und verinnerlichen würden – ganz und gar nicht im Sport. Je weniger eigene Gipfel wir jedoch erklimmen, mit desto mehr Konsum fremder, stellvertretender Gipfelerfahrungen kompensieren wir dies. 
 
Doch viele kleine Gipfel, zumindest erlebenswerte Hügel, auf denen wir die Zeit ausschalten und den Moment in seiner wahrnehmbaren, malerischen, tragischen Vielfalt wahrnehmen könnten, verpassen wir, weil wir sie nicht als solche erkennen – wir verpassen sie und erkennen sie nicht, weil wir durch unsere Zukunftsperspektive stets schon mindestens im nächsten Moment sind, und in der Regel noch viel weiter. Wenn Sie als Leserin oder Leser diesen Satz gelesen haben, werden Sie gedanklich bei ihm nur verbleiben, wenn er Sie packen sollte, wenn Sie in ihm etwas wirklich Einzigartiges zu erkennen glauben – jene Spur des blauen Elefanten zum Beispiel – so dass sie innehalten würden, um über ihn nachzudenken. Indes, verursacht der Satz das Beschriebene nicht, werden sie weiterlesen, und womöglich schon drei Sätze später darüber nachdenken, wann sie ihren Sohn von der Schule abholen wollten. Sie werden gedanklich wohl auch recht bald schon mal in der kommenden Woche vorbeischauen – wollte da nicht ihr alter Freund vorbeikommen? Und so weiter. Den Momenten, in denen ein intensiver, langsamer Blick in die Tiefe und, die erweiterte Form, ein Teilen dieser Erfahrung mit einem oder mehreren anderen Menschen auf dieser Ebene uns auf einen symbolhaften Gipfel führen kann, entfliehen wir dadurch, dass wir sie nicht sehen, oder sie nicht aktiv und bewusst gestalten. Oder beides. Das ist auf der persönlichen Ebene mehr als schade – auf der gemeinschaftlich-politischen indes ist es verhängnisvoll.

Denn wenn wir gemeinschaftlich zu stark auf die Zukunft fokussieren, und nicht zunächst das sehen, was und wen wir jetzt vor und in uns haben, wie viel es eigentlich ist, an weit gefasstem, absolutem Wohlstand – und was wir daraus alles machen könnten, etwa mit den 100 erwähnten verbrannten Milliarden – dann werden solche gemeinschaftlichen Zukunftsvisionen zumal in Zeiten des Umbruchs zerstörerisch wirken. Wir empfinden eine gemeinschaftliche, etwa eine nationale Zukunftsperspektive noch nachdrücklicher, noch stärker auf unser Bewusstsein einwirkend – weil wir eine gemeinschaftliche Zukunftserwartung als wahrscheinlicher und nachhaltiger denken und fühlen, als es bei unseren eher persönlichen Zukunftsgedanken der Fall ist. Die gemeinschaftlichen Zukunftsperspektiven, die nationalen, etwa jene aus Programmen politischer Parteien, aber auch umfassende und wirkmächtige Losungen wie „Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte“, beinhalten als Fundament insgesamt recht stabile Wirklichkeiten oder Subsysteme der Wirklichkeit: Staaten, Gerichte, Schulen und Universitäten, Polizei, Armeen, soziale Sicherungssysteme etc. Wir vertrauen diesen, von einzelnen Personen als unabhängig wahrgenommen Subsystemen der Wirklichkeit, dass sie unsere Erwartungen der Zukunft in dieser auch wirklich umrahmen und stabilisieren können. So soll etwa ein Gericht, oder allgemeiner: das Recht, auch in dreißig Jahren noch meinen Anspruch auf mein Eigentum schützen – sonst nehme ich natürlich keinen Kredit. Und die Rentenversicherung in 30 Jahren, und so weiter. Andere, nicht nur wir selbst, sichern also unsere Zukunftsentwürfe ab. Wenn nun jedoch unser Vertrauen in die beschriebenen, äußeren Subsysteme der Wirklichkeit immer stärker wankt oder diese tatsächlich an Autorität verlieren, und zudem unser Vertrauen in uns selbst, als autonome, wenn auch in gemeinsame Kontexte eingebundene Wesen, relativ wenig ausgeprägt ist, ist eine aus dieser Mischung entstehende Zukunftserwartung der Menschen, vor allem aber die Zukunftserwartung ganzer Gruppen oder gar Nationen, nicht sehr rosig. Sie wird düster, angstvoll und abwehrend. Und heraus kommen fragwürdige Alternativen nicht nur für Deutschland. 
 
Die rechte Spur

Die Zukunft, das ist die heute immer stärker geteilte Projektion vieler Menschen, wird nicht gut aussehen. Es ist dies ein fundamental anderer Zeitgeist als jener, der noch vor rund 25 Jahren in der westlichen Hemisphäre vorherrschte, in erster Linie auf die eigene Nation bezogen, den eigenen Staat – und darin die eigene Zukunft. Wohlstand für alle am Ende der Geschichte – dies war in etwa das Versprechen in Francis Fukuyamas Diagnose vom angeblichen Finale der Menschheitssaga. Doch dieses Versprechen erwies sich in großen Teilen, oder vielmehr für große Teile der Menschheit, als Mär. Und so setzt der in die Mitten der Gesellschaften drängende Zeitgeist – ein rechtskonservativer Rückzug auf das scheinbar überschaubare Nationale, das gefährdet scheint, mit dem vagen Versprechen der Rückkehr zu alter neuer Größe – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang, die sich derzeit vor unser aller Augen in immer mehr Köpfen entfaltet. 
 
Und diese Köpfe schließen sich zu immer größeren Gruppen zusammen. Die rechten Parteien in ganz Europa wachsen und sind auch im Aufwind, weil sie den Menschen ihre Zukunftsängste zu nehmen versprechen. Doch die Instrumente, die sie dafür nutzen und künftig wohl noch radikaler nutzen wollen, waren, sind und werden aus schwarz-weißen Bildern der Welt zusammengeschustert, weil das Regenbogenfarbene blendet, aus Angst, Misstrauen und Verschwörungsdenken, die gesät werden, die Welt in Freund und Feind teilen, das archaische Stammesdenken befördern, (gerecht geflossenes) Blut, Opfer und Krieg verklären. Und das Grundlegende des nach rechts Strebenden: sich von allem abgrenzen, das meine und unsere (nationale) Zukunft ja nicht berühren, und schon gar nicht mitgestalten soll. Die Fremden. 
 
Dass viele Menschen sich in unseren rasant beschleunigten Zeiten, in denen der tägliche Zufluss an Informationen die Verunsicherung des Einzelnen befördert, nach einer sicheren Zukunftsperspektive sehnen, ist fundamental für den Aufstieg der Rechten. Denn diese stellen ihrem Schreckensszenario einer entgrenzten, multikulturellen, zerfallenden Gemeinschaft ein stabiles Zukunftsbild entgegen. „Wir sind auf der einen Seite, Millionen von Menschen mit nationalen Gefühlen, während auf der anderen Seite die Elite der ‚Weltbürger‘ ist. Nationale und demokratische Kräfte sind auf der einen Seite, und supranationale und antidemokratische Kräfte sind auf der anderen“, sagt Ungarns Premier Viktor Orban. Der Politiker kann als stellvertretend für den rechten Geist der Zeit in seiner (ost)europäischen Variante stehen – auch weil auf der vom ihm und seiner Gruppierung bereits seit über acht Jahren beackerten magyarischen Erde die neue Saat bereits sehr konkrete Früchte trägt, die keine süßen sind. Sie schmecken nach bitterem Autoritarismus, der sich auf eine kapitalistische Oligarchie stützt. 
 
Das Beispiel Ungarns ist – nicht nur wegen der Dauer der Orbanschen Machtausübung, sondern auch wegen seiner kühl-autoritären Effizienz – eines, das die Ziele der an Macht gewinnenden Rechtskonservativen und Nationalisten auch anderswo mit am deutlichsten offenlegt. Möglich und wirklich werden diese rechten Wege nur durch den gleichzeitigen ruhmreichen Rückblick – schwarze Flecken werden gerne in Graustufen gesetzt -, also die Einbindung der nationalen Geschichte, konkreter: den daraus potenziell zu schöpfenden Ruhm, in die Gegenwart. Die rechten Parteien und Gruppen betonen stets das Große, das Heroische, auch das mythisch Aufgeladene ihrer nationalen Geschichte – das aus ihrer Sicht Fundamentale, das die nationale Gemeinschaft auch künftig tragen soll. Und diese nationale Gemeinschaft soll, was ihre Mitglieder betrifft, auch künftig so bleiben, wie sie ist, beziehungsweise wieder „reiner“ werden. Eine sichere, große Zukunft also ohne all jene, die eine Verunsicherung dieser vagen Zukunftsprojektionen erzeugen: die Fremden, die Muslime, die Schwarzen. Aber auch die radikal anders Denkenden, anders Lebenden. 
 
Die Rechten, in allen Ausprägungen von Alt-Nazis zu den Neonazis, über die Identitären, die nationalistischen Alternativen bis zu den Konservativen rechts außen, haben in unserer Zeit so viel Zuspruch, weil es die Zeiten der visionären Erzählungen sind. Denn wenn wir Menschen große Angst haben, fangen wir wirklich an, die großen vagen pathetischen Erzählungen zu glauben – und Visionen sind in der Regel vage und pathetisch. Wenn wir vor konkreten großen Ängsten stehen, oder sie uns auch nur für die Zukunft fühlend vorstellen, müssen auch die Gegenreaktionen oder die Gegenerzählungen groß sein, damit sie uns wieder halbwegs ins gefühlte Gleichgewicht des Daseins bringen. 
 
Mut und Handeln
 
Welche großen Erzählungen eignen sich, die Furcht, die weiter reicht als die Angst, zu überwinden? Die Furcht ist hier und dort, sie wächst, wenn wir mehrheitlich oder ausschließlich passive Beobachter, und nicht Handelnde sind – und wenn wir zugleich unsere Handlungsfähigkeit, die über unser nahes persönliches Umfeld hinausreicht, als solche infrage stellen. „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, ist sinnlos und verfällt in Vergessenheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte“, schrieb Hannah Arendt. Wenn wir es nicht wagen, nicht dürfen, nicht können, wenn wir es aus welchen Gründen auch immer nicht vermögen, handelnd in das feine Netz zwischen uns und die Menschen unsere willentlich getränkten Fäden einzuspinnen, dann fallen wir in Richtung Ohnmacht, wir fühlen uns verloren, anonym – und verlassen. Handeln erfordert die Kommunikation, das Sprechen. In der schwindelerregenden, spätkapitalistisch geprägten Verlassenheit sprechen wir wenig, obwohl wir uns täglich begegnen. Wir können unser Handeln nicht auf das Wesentliche am Leben, die Menschen und die weitgefasste Kultur, richten, sondern sind mit den Ängsten und Sorgen des täglichen Lebens konfrontiert, die uns absorbieren und sich nach außen hin eben in einer angstvollen Abwehrhaltung verhärten. Unser im weiten Maße imaginiertes Heim gleicht dann psychisch einem Kokon, einer Eierschale, die scheinbaren Schutz bietet, in der wir aber unfrei werden und nicht sichtbar. Die Schatten im Innern nehmen überhand - und die gefährliche Projektion unserer Schattenseiten auf den 'Anderen'. Notwendig sei daher eine Rückkehr zu Mythos und Symbolen, schrieb der Psychologe Carl Gustav Jung, denn: „Wenn symbolische Ideen verloren gehen, werden die Brücken zum Unbewussten unterbrochen. Kein Instinkt schützt mehr vor ungesunden Ideen und hochtrabenden Worthülsen. Ohne Tradition und instinktiven Grund hat die Vernunft keinen Schutz vor Absurdität.“ Wir lachen über den als Schamanen gekleideten Mann, der mit seinesgleichen das US-Kapitol stürmte – dabei sagt uns sein Bild womöglich etwas, das weit tiefer reicht als in die Zeit tragischer Komödien der alten Griechen. „Wo der rationalistische Materialismus vorherrscht“, so Jung, „entwickeln sich Staaten weniger zu Gefängnissen, als zu Irrenanstalten.“
 
Hannah Arendt (1906-1975), eine der freiesten und radikalsten Stimmen der politischen Theorie und der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, hat, als vielfach getriebener Flüchtling und als Staatenlose, im Sprechen und Schreiben stets gehandelt. Ihr Denken ist in mannigfaltiger Kolorierung in die Gegenwart der politischen Ideen eingeflossen. Das Handeln ist in der Umfassung von Arendt ein vielstimmiges, resonierendes Gedicht. Es ist, grundsätzlich von der Arbeit und dem Herstellen verschieden, eine Art von Erzählung, die potenziell von jedem Menschen in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ eingeflochten werden kann. Dass der Mensch dies tun kann, sagt Arendt, liegt daran, dass er als Neugeborenes sodann in eine Welt kommt, in der es nach seinem ersten Anfang einen weiteren Anfang zu setzen fähig ist – und so weiter bis ans Ende seiner Geschichte. „Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als dass die Erschaffung des Menschen mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt“, schreibt sie.

Der Anfang und das Handeln in der Freiheit – denen Arendt in wunderbaren Passagen ihres Werks „Vita Activa“ auf den Grund geht – sind fundamental mit den hier von uns erörterten Phänomenen verbunden: der Furcht und der Zeit. Im freien Handeln nähern sich Gegenwart und Zukunft stets an, vereinigen sich mitunter. Das bloße Dauern oder Andauern eines Zustands – ob einer konkreten persönlichen oder auch einer politischen Situation des Stillstands – wird durch das Handeln aufgebrochen. Wir treten mit jedem Akt stets mit einem Bein in die Zukunft, die zur neuen Gegenwart wird – ein entschiedenes Handeln ist damit in der Regel gleichbedeutend mit dem Nivellieren der Zeit als gemessene und vermessene Zeit bzw. mit der Transformation der Zeit – der Verschmelzung der Gegenwart mit der Zukunft. Jeder Anfang, vor allem aber jede Handlung, die ein Dauerhaftes, Neues will und dadurch neue Realitäten schafft bzw. initiiert, ohne um ihre Enden wissen zu können; sie setzt stets die Zeit neu. Durch Handeln greift der Mensch in die Zukunft vor, indem er aus seiner (oder ihrer) Idee der Zukunft, zu der eine Handlung führen soll, Realität zu gestalten beginnt. Daher wird im Handeln die Zukunft greifbar, zumindest fühlbar, und auch wenn sie weiterhin unvorhersehbar und unbestimmbar bleibt, wird diese im Handeln erschlossene Zukunft tendenziell – furchtfreier. Die Furcht verschwindet mit der Entscheidung zur und dem Vollziehen der freien Handlung. „Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift“, so Arendt. Ein Leben ohne Sprechen und Handeln, schreibt Arendt, wäre daher „buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge des Menschenlebens gezogenes Sterben“. Viele Menschen erleben jedoch einen Mangel an eigenem Handeln in schöpferischer Tätigkeit und gemeinschaftlicher Aktivität, die durch das in enge Korsetts eingezwungene Dasein verhindert werden. Doch das Handeln als Möglichkeit ist stets da, es ist greifbar und realisierbar - auch wenn es mitunter eines radikalen Bruchs mit dem bestehenden Alten erfordert, ob persönlich oder politisch.  „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren“, schreibt Arendt. Der Mensch, wohl jeder einzelne, will sichtbar werden und sich in seiner Sichtbarwerdung im Dasein spüren. 
 
An die Ränder, weg von der Mitte 
 
Daher erleben wir derzeit, dass die Menschen in ihren nationalen Gesellschaften etwa in Staaten der EU nicht nur verhärten und rechts zusammenrücken, sondern sich auch in progressive Spannung versetzen, um sichtbar und gehört zu werden. Immer mehr Menschen handeln öffentlich – als außerparlamentarische Opposition, als Aktive in Bürgerinitiativen, als Teilnehmende bei Protesten und mit langem Atem in weitgefasst sozialen Vereinigungen, als engagierte Küstlerinnen und Künstler. 
 
Einige taten dies schon immer, wie der unverbesserliche Konstantin Wecker, der so viel mehr als nur „Nein!“ sagt. „Ich bin Künstler und bekennender Utopist. Ich werde nicht aufhören, von einer grenzenlosen Welt zu träumen. Ohne Visionen werden wir ersticken an unserer Bürgerlichkeit und geistigen Sattheit. Ich lasse mich nicht auf einen nationalen Sozialismus ein. Ich kann Menschen lieben, aber keine Nation, kein Vaterland“, sagt der 71-Jährige in einem Interview in der Musik- und Politik-Zeitschrift „Melodie und Rhythmus“. Weckers Worte sind nicht nur Meinung, sondern kristallisieren sein Handeln der vergangenen fünf Dekaden und seinen immensen Beitrag zur antifaschistischen Bewegung in Deutschland, und für einiges mehr. „Egal, ob seine Werke politisch sind oder ob er Schlager singt: Kein Künstler darf sich jetzt mehr raushalten. Europa droht faschistisch zu werden. Wir müssen etwas dagegen tun“, sagt Wecker. 
 
Früher wurden Menschen wie Wecker, die unermüdlich gegen Faschismus und später gegen die neoliberalen Auswüchse protestierten, von der Mitte der Gesellschaft ab verlacht. Heute bestätigen sich Rufe wie die seinen, und werden gehört. Die neuen Erzählungen sind angstfreier, sie sprießen aus den Bruchstellen der Gesellschaften, in denen sich die Menschen aktiv dem weitgefassten Politischen zuwenden. „Zwei Dinge bedeuten heute, dass eine gravierende Veränderung, eine Umwälzung ‚von unten‘, eine Veränderung, angeführt von den Glücklosen, eine Veränderung in der Organisationsform der Welt eher möglich ist als zuvor“, schreibt der US-amerikanische Schriftsteller Shawn Wallace. Der erste Faktor sei „der Umstand, dass nun eine weltweite Kommunikation zwischen den glücklosen Menschen möglich ist. Der zweite ist, dass eine dramatische Veränderung irgendeiner Art so oder so unvermeidlich ist, weil es entweder eine Form vernünftig durchgeführter globaler Veränderung geben wird oder eine völlig chaotische Umwälzung, denn die Flüsse strömen durch die Straßen der Stadt und die meisten Gattungen des Planeten, die unsere eingeschlossen, werden eine nach der anderen erkranken und sterben.“4 Angesichts dieses apokalyptischen Zukunftsszenarios sieht der 74-Jährige eine Hoffnung; eine, die an der in der Dunkelheit liegenden Basis ansetzt: „Die Nacht ist ein wundervoller Segen. (…) Wir können innehalten. Wir können nachdenken. Und noch einmal anfangen, anders.“ 
 
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Der Sohn hielt die wohltuend warme Hand seines Vaters fest, schaute ihm erstaunt in die Augen und sagte: „Die Zeit fühle ich nicht. Aber Papa, ich wollte noch was fragen: was ist das, das Nichts? Reden wir darüber, morgen? Jetzt, ja jetzt – will ich mit Dir die Sendung mit der Maus und ihrem Freund sehen. Willst du auch?“


1Volker Demuth: „Dem Ufer nah“, in: Lettre International, Nr. 119, Winter 2017, S. 22-29.

2Mely Kiyak, „Nur Mut“, in: Frankfurter Rundschau (31.12.2008): http://www.fr.de/politik/meinung/leitartikel-nur-mut-a-1130522

3Pinkola Estes, Clarissa: „Die Wolfsfrau“, eigene Übersetzung aus der polnischen Übertragung „Biegnaca z wilkami“, Zysk i s-ka, Poznan, 2012, S. 464.


4Wallace Shawn, “Nachtgedanken”, in: Lettre International, Nr. 119, Winter 2017, S. 7-18.



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März 2019
Zeitenwende in Polen?
Das Jahr 2019 wird für Polen ein enstcheidendes: Die Europawahlen, vor allem aber die Parlamentswahlen im Herbst entscheiden darüber, ob sich das Land weiter nach rechts in Richtung ungarischer Verhältnisse bewegt, oder aber die Polinnen und Polen den nationalistisch-autoritären Kurs der Regierung der Recht und Gerechtigkeit (PiS) abschmettern. Die Chancen für die Opposition standen lange nicht so gut. Drei Faktoren könnten diese entscheidend verbessern: die gesellschaftlichen Nachwirkungen der Ermordung des Danziger Präsidenten, die Selbstentlarvung der PiS und ihres Chefs Jarosław Kaczyński – und die neue Mitte-Links-Partei „Wiosna“, die in Umfragen inzwischen drittstärkste Kraft wäre. In ihrer Verbindung bringen die drei Aspekte schon jetzt spürbar Bewegung ins Land – und verändern den öffentlichen Diskurs.
Von Jan Opielka

Danzig, das polnische Gdańsk, ist eine besondere Stadt. Einst reicher Teil der Hanse, in der Zwischenkriegszeit als freie Stadt Zankapfel zwischen Polen und dem Dritten Reich, in den Jahren des polnischen Sozialismus eine der Brutstätten der blutig niedergeschlagenen Arbeiterproteste im Jahr 1970 und zehn Jahre später Geburtsort der Solidarność-Bewegung. Anfang März wurde erstmals eine Frau Präsidentin der Stadt. Die außerplanmäßige Wahl von Aleksandra Dulkiewicz war indes durch einen traurigen Umstand bewirkt worden die Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz vor nunmehr gut acht Wochen. Seither ist von Gdańsk aus Bewegung ins Land gekommen, deren Auswirkungen erst durch einen kurzen Rückblick nachvollziehbarer werden.

Ein Hassmord
und seine Folgen

Ein junger Mensch, ein unschuldiges Opfer, ein Mord – und eine Welle gegen den sich an Weichsel und Warthe ausbreitenden Hass als Folge. Wenn sich Stefan W., der am 13. Januar dieses Jahres bei einer Benefizveranstaltung in Danzig Stadtpräsident Paweł Adamowicz vor aller Welt Augen niederstach, einige Folgen seiner Tat vorgedacht hatte, dann höchstwahrscehinlich nicht diese: hunderttausende Menschen, die im ganzen Land auf die Straßen und Marktplätze gingen, um des 53-Jährigen zu gedenken – und wie wachgerüttelt offen über den sich ausbreitenden Hass zu reden. Denn Stefan W. hat, so rief er nach seinen tödlichen Stichen ins Mikrofon, mit seiner Tat auch auf die heute oppositionelle Partei Bürgerplattform (PO) eingestochen, die er für seine über fünfjährige Gefängnisstrafe verantwortlich macht. Zuletzt unabhängig, war Adamowicz jahrelang in der liberalkonservativen PO aktiv. „Ein tragisches Ereignis verdichtet die Realität”, schrieb Tadeusz Sławek nach der Tat in dem progressiven katholischen Wochenmagazin „Tygodnik Powszechny”. „Eine bislang durch unsere Gewohnheiten und fehlende Aufmerksamkeit verdünnte Realität, zersplittert in Bröckchen einzelner, miteinander nicht verbundener Geschehnisse, erlangt nun eine ungewöhnliche Schwere. Sie überschreitet die kritische Masse, explodiert, und bewegt sich blitzartig mit einer gewaltigen Druckwelle.“

Sławek schrieb diese Worte kurz nach Adamowiczs Tod. Nun, da gut zwei Monate vergangen sind, erscheint nur die „gewaltige Druckwelle“ als überzeichnet. Denn die Nachwirkungen des Mordes sind eher subtiler Natur, sie haben sich verselbständigt – und die Erinnerung an den Tod mischt sich dabei mit weiteren Ereignissen in der polnischen Politik. Den Mord selbst hat bislang weder die Opposition als politisches Thema vereinnahmt, noch konnte die regierende Recht und Gerechtigkeit (PiS) überzeugend darlegen, dass sie nichts mit dem rauen gesellschaftlichen Klima, das den Täter womöglich beeinflusste, zu tun habe. Adamowiczs Tod, so jäh, brutal und unerwartet, scheint sich dennoch als ein symbolisches Ereignis in den Köpfen vieler meiner Landsleute festzusetzen. In einer repräsentativen Umfrage kurz nach dem Mordfall sagten zwei Drittel der Befragten, dass sie Hass-Sprache in ihrem Alltag erleben – meist im Fernsehen oder sozialen Medien – und über 80 Prozent sehen dies als „wichtiges Problem“. Der angesehene Dominikanerpater Ludwik Wiśniewski, ein ehemaliger, geachteter Oppositioneller und Freund von Adamowicz, hatte es bei der Trauerfeier in der Danziger Marienkirche ganz direkt gesagt: „Ich bin überzeugt davon, dass Paweł will, dass ich die folgenden Worte ausspreche: wir müssen dem Hass ein Ende setzen, wir müssen der Hasssprache ein Ende setzen, wir müssen der Verachtung ein Ende setzen. Heute erleben wir in Danzig einen neuen, historischen Moment: ganz Polen – womöglich nicht nur Polen – wartet, dass von hier aus die Botschaft ausgeht, die bei jedem Polen ankommt und das moralische Gleichgewicht in unserem Land und unseren Herzen wiederherstellt.“

Die Trauerrede, oder vielmehr: der eindringliche säkulare Appell des 82-jährigen Wiśniewski, der sich seit Jahrzehnten politisch einmischt, wurde landauf landab zitiert. Es scheint, als wüchse eine Sehnsucht nach Maßstäben, die für alle gelten sollen – für die politisch Andersdenkenden wie für mich selbst. „Es geht um Ehrlichkeit, genauer: um Ehrlichkeit gegenüber uns selbst“, schreibt Tadeusz Sławek. Denn „was erfahren wir und was lehrt uns das tragische Ereignis von Danzig über uns selbst, was können wir über die Gründe dieser Schmach sagen und – wie könnten wir dem weiteren Abgleiten in die Barbarei begegnen?“

Der Tod des Präsidenten Paweł Adamowicz könnte durch die Verkettung der Umstände eine für diese langen Momente der kommenden Zeit einende Rolle erlangen. Sein Tod und die Umstände der Trauer scheinen zu einem sanften Fanal geworden, das die Menschen auch jenseits der Parteigrenzen erfasst. Denn die große Mauer zwischen ihnen ist es, die der PiS, aber nicht nur ihr, bislang so sehr nützt. Die dadurch befeuerte subtile und weniger subtile Dehumanisierung der Anhänger anderer politischer Parteien oder von Minderheiten in der öffentlichen Sphäre – sie zeichnet maßgeblich für die feindselige Atmosphäre im Land verantwortlich.

Eine aktuelle Studie des Zentrums der Erforschung von Vorurteilen an der Universität Warschau (UW) förderte dazu Beachtenswertes zutage. Die Erhebumg „Politische Polarisierung in Polen. Wie gespalten sind wir?“ zeigt, dass mehr als die Hälfte der Ende 2018 befragten Polinnen und Polen die Anhänger des jeweils anderen politischen Lagers – PiS auf der einen Seite, Oppositionsparteien auf der anderen – „entmenschlichen“ (dehumanisieren), diesen also „menschliche Eigenschaften absprechen“, und sie wortwörtlich näher an den Menschenaffen sehen denn am voll entwickelten Menschen. Dies könne sich in der Nichtakzeptanz gegenüber politisch Andersdenkenden, in der bewussten Isolierung dieser Menschen oder auch in Gewalt äußern, so die Autorin der Studie Paulina Górska. Bemerkenswert ist, dass es die Anhänger der Oppositionsparteien sind, die die Wähler der PiS häufiger als menschlich weniger entwickelt abwerten – womöglich auch, weil sie sich als Opfer der regierenden PiS in Ohnmacht wähnen, wie Górska einräumt. Doch der Hass, zumindest die Verachtung sind in der Tat beidseitig. „Um es klar zu sagen – das, was wir über die Einstellungen von anderen uns gegenüber denken, steht in enger Verbindung zu unseren eigenen Positionen“, schreibt Psychologin Górska.

Wunden der
Wendezeit als Wurzeln

Viele Menschen im Land sprechen kaum mit Anhängern der anderen Seite – zumindest nicht über die Politik. Diejenigen, die es tun, das belegte nicht zuletzt die oben erwähnte Studie, haben ein positiveres Bild der angeblichen „Gegner“. Doch die Mehrheit bleibt geteilt, sagt auch Karol Modzelewski, einer der wichtigsten Oppositionellen der Zeit bis 1989. Der heute 81-Jährige war einst in der Solidarność aktiv, nach den Umbrüchen von 1989 sagte er indes:Für den Kapitalismus habe ich nicht gekämpft und im Gefängnis gesessen.“ Nun sieht er Polen „gesellschaftlich in etwa in der Hälfte getrennt, wie durch eine chinesische Mauer. Durch diese Mauer dringen keine Informationen, Argumente und Werte auf die jeweils andere Seite durch. Die großzügige Sozialpolitik der PiS ist eine Antwort auf die Schmerzen des degradierten Teils der Gesellschaft. Wir haben also zwei Gesellschaften im Land.“

Die PiS konnte bislang mit ihrer schwarz-weißen Politik bei so vielen Menschen auf fruchtbaren Boden bauen, weil viele im Land selber die Erfahrung des Gedemütigtseins gemacht haben – durch den Neoliberalismus, der ihnen seit der großen Wende von 1989 die im August 1980 in Danzig geborene Solidarność, die Solidarität, eine der weltweit bedeutendsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts, brutal zunichte gemacht hat. Der Mythos der Solidarność von 1980/81 wurde nach 1989 benutzt, um die Kräfte des gesellschaftlichen Widerstands angesichts der brutalen und radikalen Transformation in Polen zu betäuben“, sagt Modzelewski. Neben den nach 1989 brachial einsetzenden ökonomischen und sozialen Problemen und Ängsten mussten und müssen sie zudem faktisch oder zumindest mental ihre Rolle als Schulkinder (Musterschüler) des sie belehrenden Westens ertragen – eine demütigende Erfahrung für erwachsene Menschen. Sie stellt sich etwa bei einem polnischen Arbeiter am Band eines deutschen Automobilerstellers in Polen ein, der die nächste Schraube mit dem Bewusstsein einsetzt, dass sein Kollege in einem deutschen Werk das Drei- oder Vierfache für die gleiche Arbeit erhält. Die Schlechteren verdienen weniger – sie müssen erst aufholen und nachahmen; dies ist die täglich erlebte Lebensbotschaft von Millionen von Menschen. Im Leben des Nachahmenden vermischen sich zwangsläufig Gefühle der Unzulänglichkeit, Unterlegenheit und Abhängigkeit, des Identitätsverlustes und der unwillkürlichen Unaufrichtigkeit“, schreibt der für seine Werke zum Thema Mittel- und Osteuropa bekannte bulgarische Politologe Ivan Krastev. „Imitatoren sind niemals glückliche Menschen.“

Nun hat die PiS in ihren vergangenen drei Regierungsjahren auf diesen Umstand mit einem durchaus beachtlichen Sozial- und Arbeitspolitikprogramm reagiert – und die materielle Lebenssituation von Millionen von Menschen im Land spürbar verbessert. Vor allem deshalb hat sie aktuell Zustimmungswerte von aktuell 34-41 Prozent. Zugleich hat die PiS der Abreaktion auf die Demütigung vieler dieser unglücklichen Menschen Raum geöffnet – gegen die „Kommunisten und Diebe“, jene der „schlechteren Sorte“, wie es, von Jarosław Kaczyński und seinen Ergebenen vor einigen Jahren formuliert wurde und inzwischen zum unrühmlichen Sprichwort avancierte. All jene Polinnen und Polen sollen dies sein, die einen besseren Übergang ins Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus der Weichsel-Art mit seinen altpolnisch feudalen Strukturen und in den Wirren der Globalisierung geschafft haben. Sie waren und sind, in dem Narrativ der PiS, die korrupten Nutznießer der Transformation nach dem Kollaps des Sozialismus'. Nutznießer an und jenseits der Grenze des Legalen gab und gibt es freilich – doch sie sind die Minderheit. Die Mehrheit sind Menschen, die etwa für ihr Leben ebenso hart arbeiten müssen, wie PiS-Anhänger auch.

Doch ohne Generalisierung keine Feind-Propaganda, ohne Feind-Propaganda indes keine Wahlsiege vor allem für Parteien wie die PiS oder die ungarische Fidesz, die ihre Anhängerschaft jenseits durchaus progressiver Sozialpolitik mit Rachegelüsten speisen, Anderen die Daseinsberechtigung im öffentlichen Raum absprechen zu dürfen. Der polnische Soziologe und Publizist Sławomir Sierakowski bringt es auf den Punkt: die politische Trennlinie verlaufe in Polen bislang „nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen richtig und falsch”. Politische Gegner seien in dieser Perspektive „illegitime Gegner, die nicht nur geschlagen, sondern entrechtet werden sollten“, so Sierakowski.

Der Gesichtsverlust
der geldresistenen PiS

Doch dieses radikale Narrativ, von dem auch Teile der liberalen Opposition erfasst sind, zeigt immer größere Bruchstellen – nicht zuletzt im Nachklang des Mordfalls von Danzig, der die Debatten im Land zu zivilisieren scheint. In der regierenden PiS weiß der übermächtige Parteichef der PiS, Jarosław Kaczyński, die ausbrechenden Konflikte und Probleme immer weniger zu kitten. Das politisch besorgniserregend stark um den Kaczyński-Orbit zentrierte Machtgefüge seiner Partei und von ihr kontrollierter Organisationen und Seilschaften gerät derzeit sichtbar ins Wanken. Denn seine Formation könnte nun mithilfe jener Waffen zu Fall gebracht werden, mit denen sie bislang ihre politischen Gegener diskreditierte – Vorwürfen des Klüngels, der Geldgier, der Vetternwirtschaft.

Am 28. Januar veröffentlichte die überaus PiS-kritische und einflussreiche Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ Telefonmitschnitte eines Gesprächs Kaczyńskis mit einem österreichischen Investor. Dieser sollte ein umgerechnet rund 300 Millionen Euro teures Bauprojekt in Warschau realisieren – in Auftrag gegeben durch die Srebrna GmbH, eine in den 1990er Jahren von Kaczyński und seinem politischen Umfeld gegründete Gesellschaft. Die Gesprächsmitschnitte sowie in den folgenden Wochen auftauchenden weiteren Berichte legen nahe, dass Kaczyński informell der Strippenzieher des Unternehmens ist – obwohl es Parteien verboten ist, Firmen zu führen. Inzwischen sind auch Vorwürfe von Schmiergeldzahlungen an Mitglieder des Rates der Lech-Kaczyński-Stiftung, die Eigentümerin der Srebrna, erhoben worden. Der österreichische Investor fordert von Srebrna, inzwischen vor einem polnischen Gericht, die Zahlung von 1,3 Mio. Euro für sein Projektentwurf. Kaczyński indes verweist darauf, dass er bei der Srebrna kaum etwas zu sagen und auch nicht gegen Gesetze verstoßen habe. „Die Lech-Kaczyński-Stiftung ist von der Partei rechtlich vollständig getrennt. Viele reden über Srebrna als eine ökonomische Basis unserer Partei. Doch so ist es nicht. Zwischen der PiS und der Srebrna-Gesellschaft (…) gibt es keine finanziellen Transfers“, sagte Kaczyński Mitte Februar. Kurze Zeit später hat er Klage gegen die „Gazeta Wyborcza“ wegen Verleumdung erhoben.

Der Srebrna-Fall ist komplex, von erwiesenen Gesetzesverstößen kann bisweilen nicht die Rede sein, er wird von der Opposition und ihr nahestehenden Medien womöglich über Maß befeuert – und dennoch dürften die Ausfransungen des Falls ebenso wie die Tragödie von Danzig in den kommenden Monaten Nachwirkungen entfalten. Denn beide markieren nicht nur ein punktuelles Ereignis – hier eine Finanzaffäre, dort einen Mord. Vielmehr scheinen sie tiefer liegende Mechanismen oder Ursachen aufzudecken, die die Menschen beschäftigen, und beunruhigen müssen – und die ein großer Teil von ihnen ablehnt.

Denn tatsächlich speist sich ein Teil der PiS-Wählerschaft aus einst enttäuschten PO-Wählern, denen die Partei nicht nur zu liberal, sondern auch zu macht- und womöglich auch geldversessen schien – einige Affären aus der Zeit der von der PO geführten Regierungen der Jahre 2007-2015 belegen Korruption und Seilschaften, andere legen diese zumindest nahe. Kaczyński indes hat jahrzehntelang das Image eines inkorrupten, alleine an seinen politischen Visionen interessierten patriotischen Alphatiers aufgebaut – und seine Partei sollte Spiegel dessen sein. Er demonstrierte dies mehrmals, so etwa auch vor gut einem Jahr, als die PiS in die Breduille geriet, nachdem hohe Prämienzahlungen für Kabinettsmitglieder bekannt wurden. Ex-Premierministerin Beata Szydło verteidigte diese mit den Worten, ihre Mannschaft habe hart dafür gearbeitet und „es sich schlicht und einfach verdient“. Auch unter PiS-Anhängern regte sich Unmut – und Kaczyński wies die Regierung von Mateusz Morawiecki prompt an, die Prämien zu spenden, und die Bezüge aller Parlamentsabgeordneten sowie aller polnischer Stadtpräsidenten um 20 Prozent zu kürzen. „In die Politik geht man nicht wegen des Geldes“, sagte er. Kaczyński zeigte klare Kante, Umfragen bescheinigten ihm den Zuspruch von vier Fünftel der Landsleute, sein Image als inkorrupter Saubermann wurde noch gestärkt.

Dieser Nimbus ist mit dem Srebrna-Fall mehr als angekratzt, zumal bereits in den Monaten zuvor eine Korruptionsaffäre rund um den von der PiS bestimmten und inzwischen im Gefängnis sitzenden Chef der staatlichen Finanzaufsicht KNF ausgebrochen war.

Hinzu kommt, dass es Kaczyński selbst war, der die brutalsten Hassgeister rief, die sich seither penetrant im öffentlichen Diskurs, und auch im nicht öffentlichen zwischen die Menschen eingenistet haben. Die finale Grenzschranke des Respekts hatte er im Sommer 2017 selbst eingerissen. Bei einer hitzigen Debatte im polnischen Parlament (Sejm, Unterkammer), als die PiS weitere umstrittene Justizgesetze durch das Unterhaus drückte und die Opposition auf die Justizpolitik seines 2010 verunglückten Bruders und Staatspräsidenten Lech Kaczyński verwies, schmetterte er – spontan und ohne Rederecht – von der Sejmkanzel aus in Richtung Opposition: Wischt euch eure verräterischen Fressen nicht mit dem Namen meines Bruders ab. Ihr wolltet ihn zerstören, ihr habt ihn ermordet, ihr seid Kanaillen!“ Als er sich in seine Bank zurücksetzte, war von der Empörung kurz zuvor wenig zu sehen, dafür etliche PiS-Abgeordnete, die sich schützend vor ihren Chef stellten. Vom Parlamentspräsidenten Marek Kuchciński (PiS) erhielt er nicht einmal eine Abmahnung. Millionen von Zuschauern wurden so Zeuge hasserfüllter Mordanschuldigungen, aber auch von Kadaver-Gehorsam und bedingungsloser Unterwürfigkeit. Am folgenden Tag hatte Kaczyński bei einem Interview die Gelegenheit, zumindest etwas zurückzurudern. Doch stattdessen setzte er unter die von ihm am Tag zuvor vollzogene Herabstufung der Rede- und Respektstandards eine symbolische Unterschrift. Denn er entschuldigte sich nicht etwa, sondern verteidigte seine Haltung und seine Worte. „Ich hatte keine andere Wahl. Es war ein moralischer Imperativ, so würde ich es sagen. Ich denke weiter, dass ich richtig gehandelt habe.“

Der neue moralische Imperativ hieß spätestens seither: alles ist erlaubt, sofern es durch scheinbar berechtigte Gefühle, hier der Tod des Bruders, gestützt wird – Fakten oder Argumente zählen ebenso wenig wie die möglichen, nicht intendierten Auswirkungen des Gesagten oder Getanen. Am 14. Januar etwa, am Tag, als Adamowicz den Kampf um sein Leben verlor, hatte das PiS-nahe Wochenmagazin „Sieci“ mit einem vielsagenden Titelblatt aufgemacht: imaginäre Richter feuern dabei voller Wut mit Maschinenpistolen um sich. Die Titelzeile lautete: „Erhitzte Kaste. Die Richter gehen immer häufiger auf politische Barrikaden.“ Doch auch die oppositionsnahen Medien haben in den vergangenen Jahren nicht mit fragwürdigen Aufmachern und Beiträgen gespart, die wiederum die PiS über das in der politischen Karikatur hinaus verträgliche verunglimpften.

Offenbar jedoch wollen viele Menschen die hasserfüllte Sprache und damit den Hass nicht mehr hören und wirken sehen, bedingt nicht zuletzt durch den Mord an Adamowicz. Und schon bei den Protesten gegen die Justizreformen im Sommer 2017, schreibt der einst der PiS nahestehende Politologe Rafał Matyja, habe „die junge Generation so massenhaft teilgenommen, weil sie von der Aussage Kaczyńskis über die Ermordung seines Bruders und die verräterischen Fressen bewegt war; dies war womöglich wichtiger als der Widerstand gegen die Veränderungen in den Gerichten“. Diese Protestierenden seien zu dem Schluss gekommen, „dass die Politiker zu weit gegangen waren. Das spektakuläre Zurschaustellen der Wut, die den Fakten entgegensteht und zugleich die Motivation des an der Spitze der regierenden Partei stehenden Menschen enthüllt, wirkte mobilisierend“, sagt Matyja.

Der Tod Adamowicz' entfaltet sich daher als der womöglich entscheidende Bruch der Wirkungskraft des bald 70-Jährigen Kaczyński. Der PiS-Chef erschien demonstrativ weder bei der Schweigeminute für Adamowicz im Parlament, noch auf der Trauerfeier in Danzig, anders als PiS-Premierminister Mateusz Morawiecki und Präsident Andrzej Duda. Eine bewusste Handlung, oder eher ein Auslassen einer Handlung. Der vollends kaltherzige, kühl kalkulierende Machtpolitiker – der entweder die politische Bedeutung des Mordfalls abwerten, oder auch seine direkte Verbindung zum Hassklima kaschieren wollte – trat hier vor aller polnischen Augen in Nicht-Erscheinung.

Zum anderen aber – und dies ist ungleich wichtiger und hat nur mittelbar etwas mit Kaczynski zu tun – ist es die Art, wie Danzigs Präsident Adamowicz starb. Seine Todesminute ist in einem tragisch-symbolischen Bild voller lachender Menschen getaucht, kurz nach Adamowicz' letzten Worten, als er gerade enthusiastisch und authentisch von einer Zeit spricht, „das Gute zu teilen“, um Sekunden später mit einem Lächeln in das Gesicht seines auf ihn einstürzenden Mörders zu schauen. Das Bild, die Tat, das Opfer und die politische Einbettung wird sich aber auch deshalb in den Köpfen der Menschen einprägen, weil die Tat die Schutzlosigkeit des Lebens als solchem aufs Brutalste offenbarte. Zumindest einige solcher Taten werden mitbewirkt, oder eben: verhindert, durch diffuse Handlungen des öffentlichen Alltags, der in unterschiedliche Richtungen fließen mag: ins Aggressive, oder ins Dialogische.

Tatsächlich scheinen jedoch derzeit die Moderaten Stimmen an Bedeutung zu gewinnen – und zwar sowohl in der Gesellschaft, als auch in der Politik. „Ich behaupte, dass die nächsten Wahlen von jenen gewonnen werden, die eine größere Empathie gegenüber der gegnerischen Seite zeigen werden, sagt etwa der Politologe Jaroslaw Flis in einem Interview. Seine Einschätzung beruht nicht nur an dem vagen Vertrauen darauf, dass es „mehr Menschen guten Willens“ gäbe, als der öffentliche Diskurs der vergangenen Jahre gezeigt habe. Vielmehr zeigten Studien wie die erwähnte zur „Polarisierung in Polen“, dass jenseits der loyalen Parteianhänger „über zwei Drittel nicht so polarisiert ist, dass sie aufhören, in anderen einen Menschen zu sehen“, sagt Flis. Aus Sicht der PiS ist aber gerade dies keine gute Nachricht – sie muss auf ihre Kampfrhetorik verzichten und den Geldbeutel öffnen. Politologe Matyja glaubt daher, dass die PiS in dieser Situation nicht mehr mit radikalen Positionen mobilisieren könne. „Sie kann auf keinen eindeutigen Gegner und brutal beschuldigten Feind weisen, denn jede scharfe Attacke auf die Bürgerplattform (PO) kann auf die Vorbehalte von Wählern stoßen, auch solchen, die bislang eine Stimmabgabe für die PiS nicht ausgeschlossen haben“. Dies könne wiederum eine Demobilisierung der PiS-Anhängerschaft zur Folge haben, sagt Matyja – vor allem von solchen, die die PiS gerade wegen ihrer Freund-Feind-Erzählung schätzen. „Ähnliches gilt im Übrigen für die Anti-EU-Rhetorik (der PiS; Anm. d. Red), die ganz offensichtlich nicht funktioniert.“

In der Tat hat Kaczyńskis Formation inzwischen die schweren Geschütze in den Keller geräumt und präsentiert sich, wie schon vor den Parlamentswahlen anno 2015, wie ein zahmes Lahm. In der Auseinandersetzung mit der EU hat die Regierung Mateusz Morawiecki bereits abgerüstet und Teile der vom Europäischen Gerichtshof (EUGH) beanstandeten Justizreformen zurückgenommen.
Im Land selbst präsentierte Kaczynskis Mannschaft vor einigen Wochen neue Reformvorhaben. Diese betreffen – als Kaczyńskis „Fünfer-Paket“ angepriesen – vor allem Soziales wie die Ausweitung des Kindergeldprogramms 500plus, eine 13. Monatsrente, die Einkommenssteuerbefreiung für unter 26-Jährige, den Ausbau des Nahverkehrs in kleinen Städten und Dörfern und die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. Es ist zwar durchaus ein Schlag gegen die bisherige Opposition, die sich vor allem auf Fragen der demokratischen Freiheiten und der Justiz fokussiert.

Doch hinter dem Fünfer-Paket Kaczyńskis steckt mehr. Die Angst.

Die Partei Wiosna, der Frühling,
im politischen Frühling?

Denn ihr soziales Gesicht schärft die PiS nicht nur wegen der oben grob nachgezeichneten Ereignisse. Vielmehr erwächst ihr seit Anfang Februar ein neuer politischer Konkurrent, der bisweilen nicht nur eine moderatere Sprache gegenüber der PiS spricht, sondern auch einen Teil ihrer Wähler binden könnte – die linksliberale Partei „Wiosna“, übersetzt: der Frühling. Gründer und unumstrittener Star ist der 42-jährige Robert Biedroń. Dieser scheint das Gegenteil dessen zu repräsentieren, wofür Polens Politik in den vergangenen Dekaden, spätestens seit 2005, gestanden hat – den gesellschaftlich und sozioökonomisch wenig progressiven, inhaltslosen und zermürbenden Kampf zwischen den beiden Mitte-Rechts-Parteien PiS und PO. Die formell als Linke geltende Allianz der Demokratischen Linken (SLD) ist bislang ebensowenig im Parlament vertreten wie die, auch faktisch linke, Graswurzelpartei Razem. Auch sie und die liberale Opposition, allen voran die PO, dürften zugunsten Biedrońs weitere Stimmen verlieren – in aktuellen Umfragen ist die Wiosna, nur wenige Wochen nach ihrer Gründung Anfang Februar, mit Zustimmungswerten von 9 bis 14 Prozent bereits drittstärkste Kraft.

Biedroń ist kein politischer Nobody. Als Aktivist für Schwulen- und Minderheitenrechte war er lange Jahre in einer Stiftung und auf der Straße aktiv. In den Jahren 2011 bis 2014 war er der erste offen schwule Parlamentsabgeordnete Polens, erarbeitete sich sein Renommee als engagierter und kompetenter Fachpolitiker in Fragen der Menschenrechte, und ging später als überraschender Sieger der Kommunalwahl in der 100.000 Einwohner zählenden Stadt Slupsk im Jahr 2014 als Stadtpräsident in die nördliche Provinz. In den ersten Jahren musste der mit einem Partner fest liierte – gesetzliche Regelungen über homosexuelle Partenrschaften gibt es in Polen nicht – viel Häme wegen seiner sexuellen Orientierung über sich ergehen lassen. Seit seiner Zeit als Abgeordneter in Warschau hat er jedoch vielen Landsleuten ihre Vorbehalte gegenüber Homosexuellen nehmen können und gehört heute zu den Politikern, denen die Menschen im Land am meisten vertrauen. „Ich habe viel Erfahrung damit, gegen den Strom zu schwimmen. In meinem politischen Leben habe ich dies schon einige Male getan“, sagt Biedroń, der sich auch für ein liberales Abtreibungsrecht und die Rechte der Frauen stark macht – und unter ihnen beliebter ist als unter Männern.

Doch Biedrońs Partei spricht nicht nur Frauen und linksliberale Wähler an, die, auf deutsche Verhältnisse übertragen, wohl vor allem die Grünen wählen würden – Biedroń postuliert den Ausstieg aus der Kohleförderung in Polen bis zum Jahr 2015 – aber auch die SPD und die Linke. Er macht auch ein Angebot an all die Landsleute, die, eher konservativ, die PiS wegen der sozialen Reformen schätzen und nicht wegen ihres ins Autoritäre drängenden Nationalismus. Auch Biedroń kritisiert die Politik der PiS. Doch den Reihen der vor Kurzem anlässlich der Europawahlen im Mai geschmiedeten „Europäischen Koalition“ – bestehend aus fünf Gruppierungen unter Führung der liberalkonservativen PO – wollte er nicht beitreten. Er glaubt nicht nur daran, seine eigene Partei groß machen zu können. Er will sie vor allem nicht in einen polnisch-polnischen Stellungskrieg positionieren. „Wir müssen endlich beginnen, über Programme zu reden und nicht den polnisch-polnischen Krieg weiterführen“, sagt der Politiker. Eine Zuordnung im Links-rechts-Spektrum vermeidet die Partei ebenfalls, sie sieht sich in der Tradition der progressiven Sozialdemokraten aus Schweden. Mit Betonung auf progressiv.

Biedrońs Kernbotschaft ist eine andere – er spricht die positiven Gefühle an und meidet die Freund-Feind-Rhetorik. In der Tat wirkt der Politiker unverbraucht, progressiv und weltoffen – und setzt zugleich an polnischen Befindlichkeiten an. „Ich will das Antlitz dieser Erde verändern“, sagt er in Anspielung an die in Polen wohlbekannten Worte von Papst Johannes Paul II – um nachzuschieben, dass er die finanziellen Privilegien der katholischen Kirche schleifen will. Er will die Situation von LGBTQ-Personen rechtlich stärken, eine Grundsicherungsrente deutlich über der bisherigen Mindestrente einführen, die Gehälter im öffentlichen Dienst und der Politik offenlegen, den gesetzlichen Mindestlohn kräftig anheben, ein Wohnbauprogramm starten, die Investitionen in das Gesundheitswesen erhöhen.

Paradoxerweise könnte Biedrons Gruppierung durch die jüngsten, recht teuren Wahlversprechen der PiS noch an Stimmen gewinnen. Denn die Regierung versprach die erwähnte jüngste Steigerung der Sozialausgaben in einem nur etwas größeren Umfang, als es Biedroń kurz vor ihr getan hatte – umgerechnet gut acht Millarden Euro soll sein Reformpaket kosten. Die PiS überbot ihn, wenige Wochen später, nur um gut eine Milliarde Euro – und übernahm einige seiner zentralen Forderungen nahezu eins zu eins. Biedroń (und der PiS) wird freilich von anderen Oppositionsparteien und liberalen Medien vorgeworfen, die Gegenfinanzierung sei nicht gesichert. Doch weil die PiS vor vier Jahren mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert war, nach den Wahlen aber einen Großteil der Reformen tatsächlich umsetzte, erscheinen ihre heutigen Versprechen durchaus glaubwürdig. Und damit auch jene Biedrońs, die relativ zum Staatshaushalt auch in der Höhe nicht wirklich radikal sind.

Mit diesem Bonus und dem Fokus auf die genannten sozialen und sozioökonomischen Fragen und auf die Probleme in kleinen und mittleren Städten könnte Biedrons Partei bisherige und potenzielle PiS-Wähler binden. Solche, die die Verbesserung ihres Lebens und der öffentlichen Infrastruktur lieber einer progressiven und zugleich unverbrauchten Gruppierung anvertrauen – und nicht mehr einer, die an Grundfesten der Demokratie zu rütteln scheint und dabei ein vergiftetes Klima schafft. Und: mit einem Mann an der Spitze, der dem ebenso bürgernahen, am 13. Januar ermordeten Paweł Adamowicz sehr ähnelt. Biedroń kann auf eine recht erfolgreiche Zeit als Stadtpräsident von Słupsk zurückblicken, die Komunalwahlen im Herbst 2018 – auf die er wegen seiner Parteipläne verzichtete – hätte er laut Umfragen mit einem besseren Ergebnis als noch 2014 gewonnen. Immer wieder bringt er in Interviews und Kundgebungen seine Erfahrungen und Probleme an der lokalen Basis vor. Die Menschen, sagt er, spürten, „dass wenn ich mich schützend vor Schwule und Feministinnen stelle, ich mich auch schützend vor Menschen stellen werde, die ihren Job verlieren“.

Ein weiterer Umstand scheint ihm in die Hände zu spielen: viele Polinnen und Polen sind müde ob des seit fast fünfzehn Jahre währenden Polit-Duopols aus PiS und der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) des heutigen EU-Ratspräsidenten und Ex-Premiers Polens Donald Tusk. In diesem Lagerkampf etablierte sich ein Freund-Feind-Denken, das eine undurchdringliche Mauer zwischen Anhängern der beiden Seiten bildete und den jeweiligen politischen Gegner über Maß dämonisierte. In diesem zu einer Frage des Schicksals überhöhten, tumben Lagerkrieg – durch die Flugzeugkatastrophe von Smolensk maßgeblich befeuert – wurden jahrelang wesentliche Fragen wie Soziales und Arbeitsmarkt vernachlässigt. Jenseits berechtigter Kritik an der Politik der PiS ist in der PO bis heute kaum ein politischer Gegenentwurf sichtbar, der wesentlich über eine Rückkehr zum Status quo vor dem Jahr 2015 hinausginge. „Für die Opposition, die sich hinter der Flagge mit der Aufschrift 'Erst entfernen wir die PiS von der Macht, und dann schauen wir, was kommt' verschanzt hat, wirkt die Partei Wiosna im Jahr 2019 wie deprimierende Gewissensbisse“, schreibt der linksliberale Wirtschaftspublizist Rafał Woś.

Noch steckt die Partei in Kinderschuhen und sind jenseits von Biedroń nur wenige Gesichter der neuen Gruppierung öffentlich präsent. Doch die Zeit, und vor allem: der sich derzeit wandelnde Zeitgeist, könnte Wiosna in die Hände spielen. Und die Parteienlandschaft in Polen dauerhaft verändern.

Der europäisch
gestählte Rückkehrer

Dieses sieht offenbar auch Donald Tusk ähnlich. Der EU-Ratspräsident und in den Jahren 2007-2014 Premierminister Polens bereitet inoffiziell bereits seit einiger Zeit seine Rückkehr an die Weichsel vor. Lange Zeit war spekuliert worden, dass er erst nach Auslaufen seiner Amtszeit als EU-Ratspräsident Ende dieses Jahres bei den polnischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 antreten werde. Doch nur fünf Tage nach Gründung der Wiosna – womöglich beeindruckt von dem medialen Interesse rund um Biedroń sowie dessen guten Umfragewerten – ließ Tusks Umfeld an die Öffentlichkeit durchsickern, dass der 61-Jährige eine Plattform für Oppositionskräfte schaffen wolle. Der Name lautet: „Bewegung des 4. Juni“. Am 4. Juni dieses Jahres jährt sich der 30. Jahrestag der ersten „halbfreien“ Parlamentswahlen in Polen. Klar ist bislang, dass die neue Plattform auf die Zusammenarbeit mit Stadtpräsidenten des Landes sowie „allen Kreisen, die bislang nicht in Oppositionsparteien sind und helfen können, die PiS zu schlagen“, wie es aus Tusks Umfeld inoffiziell heißt.

Unklar ist, wie sich Tusks Plattform zu seiner Stammpartei, der PO, sowie zu deren wenig charismatischen Chef Grzegorz Schetyna positionieren wird. Tusk selber, der zuletzt immer offener gegen die PiS Stellung bezog und bezieht, äußert sich nicht direkt zu seinem neuen Engagement – wohl auch, um die Spannung zu dosieren. „Sicher können wir zwischen dem 3. Mai und dem 4. Juni die Antwort auf die Frage erwarten, ob es zu einer vorzeitigen Rückkehr des EU-Ratschefs nach Polen kommt“, schreibt Politologe Matyja. „Vor dem Tod von Pawel Adamowicz schien dies wenig wahrscheinlich, die Entscheidung wäre wahrscheinlich nach den Parlamentswahlen (in Polen im Herbst 2019; Anm. d. Red.) gefallen. Nun scheint die vorzeitige Rückkehr möglich, begründet durch diesen dramatischen Kontext.“

Die anderen Impulse für Tusks mögliche vorzeitige Rückkehr setzen jedoch die wankende PiS – und Biedrońs Frühlingspartei.

Tusks Basis wird dabei seine Heimatstadt Danzig sein. Bereits jetzt arbeitet er mit der neuen Stadtpräsidentin Dulkiewicz zusammen – bei der Organisation der Feiern des 4. Juni in Danzig. In der Stadt hat auch das renommierte Europäischen Solidarność-Zentrums (ECS), maßgeblich von Paweł Adamowicz iniitiert, seinen Sitz. Kurz nach seinem Tod entbrannte ein Streit zwischen dem ECS-Vorstand und dem Kultusministerium, das seine ECS-Förderung gekürzt hatte und seinen Einfluss in den ECS-Gremien stärken wollte. Doch eine spontane, polenweite Spendensammlung brachte die benötigte Summe von umgerechnet rund 750.000 Euro an nur einem Tag zusammen – initiert durch die Schneiderin Patrycja Krzymińska, die bereits die letzte Spendendose Adamowiczs durch ihren Aufruf nach dessen Tod mit umgerechnet rund vier Millionen Euro füllen konnte.

Die ECS-Geschichte wirkt symbolisch – vor allem im Kontext des Todes Adamowicz', und eben: des Mythos von Danzig als multikultureller Stadt und Geburtsort des für Millionen von Polinnen und Polen so wichtigen Mythos der Solidarność. Die „Solidarność, verstanden als Idee, als spezifisch polnische und zugleich universelle Idee, lässt sich staatlich nicht kontrollieren. Dies galt schon im Jahr 1980. Und gilt offenbar auch anno 2019. Es bleibt die Frage, wer diesen Mythos im für Polen so wichtigem Wahljahr 2019 glaubwürdig wiederbeleben kann – die Regierung, oder aber die alte und die sich neu formierende Opposition, mit einer sich wandelnden Gesellschaft im Rücken. Die Frage ist heute offener, und damit auch hoffnungsvoller denn je.

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Mai 2018

Freiheit statt Wohlstand
Die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit – sie sind doch nur das Fundament, das wir stets erneuern können. Selbst in ihrer utopisch perfekten Ausprägung sind sie kein Endziel – vielmehr Instrument für das, was wir von ihrer Basis aus frei handelnd erreichen wollen. Von Jan Opielka

Die Bundestagswahlen sind gefühlte zwei Jahre her. Die Königin ist tot – es lebe die Königin. Aber nicht nur durch die Kontinuität der Person Angela Merkel als Bundeskanzlerin und der sich selbst erdolchenden Sozialdemokraten als Junior, sondern auch durch die seit Jahrzehnten wiederholten Grundschlagworte der (Post)Moderne: den Wohlstand und die Sicherheit, gibt es im Westen weniger Neues, als es mitunter den Anschein macht. Wohlstand und Sicherheit sind es, die die Politik, zumal im Wahlkampf und bei fragwürdigen Koalitionsoptionen, den Menschen in unterschiedlich deklinierten Formeln als Ziel verspricht. Und nur weil dies so ist, ist der Aufstieg von Parteien wie der AfD in Deutschland und ihren Pendants andernorts erst möglich – es sind die gedanklich-strukturelle Starre der etablierten Politik gepaart mit dem sich auf der Zeitachse rasant entwickelnden Zeitgeist, in dem die Zielphänomene Wohlstand und Sicherheit an Zugkraft verlieren und von den Rändern der Gesellschaften sich ein falscher Radikalismus in ihre Herzen hineinfrisst.   

Es lohnt nicht zuletzt daher, diese beiden rhetorischen Zielvorgaben fürs Volk in Augenschein zu nehmen. Denn abgesehen davon, dass sich ersteres, also der Wohlstand, nur in einem relativ-materiellen Sinne und zweites nur bis zu einem bestimmten Grad erreichen lässt, sind Wohlstand und Sicherheit als solche fragwürdige Groß- oder gar End-Ziele. Die Frage ist vielmehr: was wollen wir mit dem Wohlstand und der Sicherheit, sollten wir sie haben, denn anfangen? Welche inneren und äußeren Welten wollen wir auf Basis des (begrenzten) Wohlstands – also des Mangels an Mangel in wichtigen und auch unwichtigen Lebensaspekten – und dem verständlichen Wunsch nach Sicherheit – dem Gefühl, dass die mich umgebenden Risiken überschaubar sind – erreichen?

Das Problem: Wohlstand und Sicherheit sind für sich genommen langweilig. Und dies ist keineswegs als Ausdruck von Sattheit und Überheblichkeit gemeint, die die real existierende Tragik etwa der zersetzenden Armut und der tatsächlich bestehenden Unsicherheiten und Gefahren, in so vielen Teilen der Welt, diskreditieren sollen. Vielmehr ist die Langeweile der Sud, aus dem heraus nicht nur progressive Häresie und Neuschöpfung ihren Anfang nehmen können, sondern auch Verachtung für den Anderen, Angst, das Ressentiment, das überzogene Sicherheitsverlangen und das fehlgeleitete Streben nach noch mehr materiellem Wohlstand.

Diese letzteren Sprösslinge der Langeweile zersetzen die schöpferische Kraft eines jeden Menschen. „Langeweile ist eine Wurzel alles Übels“, schrieb der dänische Philosoph Sören Kierkegaard[1]. Denn Langeweile der Person ist ein Vakuum – und dieses kann zum einen durch eigenes bewusstes Denken und Handeln gefüllt werden. „Frankreich ist langweilig“, schrieb die französische Zeitung Le Monde nur kurze Zeit bevor die Studentenproteste des Jahres 1968 ihren mächtigen Anfang nahmen[2]. Zuvor war das Land in einer neuen Stabilität angelangt, denn viele Länder des Westens sind nach dem Zweiten Weltkrieg von „Wirtschaftswundern“ oder, wie in Frankreich, den „glorreichen 30 Jahren“ heimgesucht worden. Die Studenten nahmen auch diese Langeweile der Stabilität – die einen Teil des revolutionären Suds ausmacht, weil sie Bestehendes, das zersetzend ist, konserviert – zum Anlass, loszustürmen. Sie verachteten die behagliche Dekadenz jener Menschen (und auch sich selbst), die sich nicht nur auf Basis eigener Arbeit in bescheidenem oder auch überbordendem Wohlstand eingerichtet hatten. In Westeuropa und Nordamerika, schreibt Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung, seien die Studierenden indirekt auch gegen die kapitalistische Wohlstandsgesellschaft auf die Straße gegangen. „Ihr Protest hatte nicht mit zu wenig, sondern allenfalls mit zu viel Prosperität zu tun, genauer: mit den empörenden Dingen, die trotz Prosperität in der Welt passierten“, schreibt Piper[3]. Der britische Historiker Tony Judt bestätigt diesen Umstand: „Ich wuchs in einer Zeit des Wohlstands, Sicherheit und Komforts auf, und deshalb habe ich, 1968 zwanzig Jahre alt geworden, rebelliert.“[4]  

Hier wirkte die Langeweile revolutionär. In den meisten Zeitphasen der jüngsten westlichen Geschichte ist die Langeweile aber domestiziert worden, sie wird gefüllt mit konsumierbaren Entertainment. Unsere Langeweile wird also von anderen Menschen, Dingen und Handlungen für uns umgewandelt. Und an dieser zweiten Stelle beginnt das Unheil seinen Lauf. Wenn wir Menschen die uns jeweils gegebenen Bedingungen, auch die von relativem Wohlstand und Sicherheit, nicht produktiv für die Eigenschöpfung und die Schöpfung für die uns umgebenden Menschen nutzen, macht sich Dekadenz breit. Es ist eine Dekadenz, die sich nicht zwingend in einem zur Schau gestellten materiellen Reichtum äußert, sondern vor allem in einer Abgestumpftheit gegenüber anderen Menschen. Der Essayist und Schauspieler Wallace Shawn beschreibt uns, die wir in jenen Wohlstandsinseln dieser Welt leben, dabei treffend als „die Glücklichen“. „Den meisten dieser glücklichen Leute fehlt die Originalität oder die Kühnheit oder die Phantasie, die es bräuchte, damit sie ihr angenehmes Leben aufgäben und sich dem Wohlergehen der Menschheit widmeten.“ Seine eigene Person nimmt er da wohl nur zum Teil heraus. „Ich selbst habe die Sehnsucht nach Bequemlichkeit immer noch nicht hinter mir gelassen. Ich mag es behaglich; ich mag es wirklich enorm, wenn es behaglich ist – selbst luxuriös, wenn ich das schaffe. Aber meine Lehrer weichten mich auf. Ich würde sagen, dass ich auf halbem Wege zur Dekadenz bin.“[5]  

Diese Dekadenz, die heute den Westen von innen zersetzt, während sie die anderen, die Verfluchten dieser Welt, ausbeutet, schafft verflachte Realitäten, auf denen wir uns immer weiter voneinander entfernen, und dies obwohl wir bereits in großer, im weitesten Sinne gefasster Distanz zueinander leben. Wie der russische Philosoph Nikolai Berdjajew in dem Werk „Von der Bestimmung des Menschen“ eindrücklich darlegte, leben wir in den als zivilisiert geltenden Gesellschaften weitgehend auf der Grundlage einer „Ethik des Rechts“[6]. Ihr Kennzeichen ist es, dass alle wesentlichen, erhabenen Aspekte des Seins in verflachter Form auftreten – zurechtgestutzt auf ein Maß, das zwar ein Nebeneinanderleben und auch ein Zusammenleben in kleineren und größeren Gemeinschaften möglich macht, aber das die ganz großen Brücken zwischen den Menschen zu schlagen nicht imstande ist.

Die Ethik des Rechts macht es etwa zur Selbstverständlichkeit, dass wir zwar als Norm anerkennen, einen Verunglückten eines Autounfalls zu versorgen und sein Leben zu retten – diese Norm haben wir rechtlich institutionalisiert, in Form eines ganzen Rettungssystems, von Krankenhäusern, Unfallversicherungen usw. Wir sichern uns, gemäß dieser Ethik, inzwischen in fast allem ab – die alten Römer waren da unsere wichtigen Vorreiter. Tatsächlich ist Römisches Recht bis heute wirkmächtig, es war vor allem dazu bestimmt, die Bessergestellten vor den berechtigten Ansprüchen der Schlechtergestellten, Unterdrückten, der Sklaven abzusichern. Und so sichern rechtliche Verträge bis heute unser Leben ab: ob Eigentums-, Arbeits-, Miet-, Kauf- oder immer öfter auch Ehevertrag – allenthalben wird das, was auf bloßem Vertrauen basierend offenbar nicht wirken, zum Chaos führen würde, juristisch geregelt. Und so stirbt das Vertrauen ab. Denn Vertrauen kann sich nur bewähren und gedeihen, wo es auf die ständige Probe ohne doppeltes Seil gestellt wird.

Bei einer Betrachtung aus der Distanz verdeutlicht diese Tatsache – dass wir Vertrauen realisieren wollen und es im Kern selbstverständlich ist, anderen in Not zu helfen – nicht mehr und nicht weniger als einen kleinen Auszug des dem Menschen innewohnenden Bewusstseins, dass wir auf eine tiefere Weise miteinander verbunden sind, dass wir getrennte Körper und Wesen einer Welt sind, ob wir dies nun humanistisch, sozialistisch, atheistisch oder religiös auffassen. Und dass wir uns daher eigentlich immer helfen – und uns gegenseitig vertrauen wollen. Und auch können.

Doch den Schritt dahin, also weiter zu gehen, den Schritt in die beschriebene Tiefe (ein schöner Ausdruck: das „Tiefenvertrauen“) und damit nach oben, wagen wir immer seltener – und in den von relativem Wohlstand geprägten Welten offenbar noch weniger. Denn ist die Welt nicht voller Menschen, die im weitesten Sinne „gerettet“ werden wollen, sollten und könnten? Und haben wir anno 2018 nicht so viel Reichtum, aber auch derart viel Wissen, Kompetenzen und Instrumente hervorgebracht, um dies in viel größeren Maße tun zu können, als wir es tun? Es ist die fundamentale Krankheit der Moderne und auch der Postmoderne, die bis auf Weiteres eben lediglich ein Anhängsel und Abschluss des Modernen mit offenem Ausgang ist, dass wir Mittel, die nicht mehr als Mittel sein könnten oder sollten, selbst als Zwecke und Ziele erachten und gemäß dieser sich ständig ausbreitenden Doktrin leben – und damit zwangsläufig den Anderen aus dem Blick verlieren.  

Das wichtigste Phänomen dabei, das Fundament dieser Doktrin, ist das kapitalistische System. Es befeuert diese Wohlstandsvermehrung und Erd-Verzehrung und reproduziert sie auf einer immer höheren und immer wackligeren Ebene, bis es durch von ihm erzeugten Ungleichgewichte und Ungleichheiten zum Einsturz kommen muss. Bis es soweit sein wird, können wir uns zumindest gedanklich von dieser angeblich nicht ideologischen Ideologie lösen und sie als imaginierte Außenstehende betrachten. Aus dieser Perspektive, also einem inneren Abschied vom Kapital-System, können wir den jedem Menschen inhärenten Geist seines und ihres je eigenen und einzigartigen schöpferischen Dranges begreifen.

So sehen wir, dass der Kapitalismus als fast alles durchdringendes System nichts anderes tut, als unser schöpferisches Potenzial in eine ihm in seine Ur-Wurzel eingeschriebene Richtung zu lenken – mit sanfter Anziehung, der verlockenden soft power der reizvoll schillernden Produkte und Dienstleistungen, dem Fetisch, und auch mit physischer Gewalt in Form von weit gefasster Ausbeutung. Unser Streben wird im Kapitalismus auf die Produktion und ständige Neuproduktion von Dingen und Dienstleistungen gerichtet, die wir in der Folge verbrauchen, ohne sie alle brauchen zu müssen, bzw. sie allzu häufig nicht adäquat und anders zu brauchen, als wir es auch tun können – etwa, was die neuen Kommunikationsmöglichkeiten angeht.

Doch dass wir als Menschen immer mehr wollen und dass wir niemals „fertig“ mit unserem Wollen sein können, ist dabei im Kern weder verwerflich noch unverständlich. Denn dass wir immer mehr wollen, auch das scheinbar Unerreichbare, ist dem Umstand geschuldet, dass wir lebenslang und unbedingt, unbedingt zu einem nicht fassbaren 'Oben' wollen. Wir wollen sprichwörtlich an die Bergspitzen, ganz nah an den Himmel, und weil die meisten von uns es in diesem Zeitpunkt der Geschichte nicht selbst in die Hände, Köpfe und Füße nehmen, die Bergspitzen zu erklimmen, bewundern wir – und hier hatte Friedrich Nietzsche Recht – die anderen, die uns, einmal oben angelangt, als Übermenschen erscheinen. Dass und warum wir diese passiven Blicke in unserem jetzigen Entwicklungsstand etwa auf die Sportler richten, hat Peter Sloterdijk in seiner meisterhaften Erzählung „Du musst dein Leben ändern“ dargelegt[7].

So sind etwa die spielerisch besten Fußballer heute mittels ihrer vorbildlichen Übungsleistungen auf dem Platz zu götterähnlichen Gestalten emporgestiegen. Fußballer zeigen mit ihren Werdegängen, dass harte Arbeit an sich und ein vollkommenes Aufopfern für die eine Sache es vermögen, uns (oder vielmehr sie) nach vorne, und nach oben zu bringen. Ein Prinzip, das in seinem abstrakten Kern beinahe jeder Kritik standhält und seine Wurzeln der Anziehungskraft wohl schon bei Homers ‚Odysseus‘ nahm, dem Grundmythos unserer Kultur, wie Max Horkheimer und Theodor Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ darlegten. Dieser Mythos des Dranges, des Willens, des Kampfes mit und gegen sich, die Natur und all die Lebenswiderstände, hat seither viele Gestalten angenommen – in der Moderne auch die des Sports, mit dem mannschaftlichen Fußball als Königsdisziplin.

Das Fußballspiel zeigt uns aber auch, dass es auf dem Weg zum Ziel nach oben offenbar immer menschliche Gegner gibt oder vielmehr geben soll – 22 Spieler auf ein Tor machte ein gänzlich anderes Spiel. Der Umstand des Gegner-Haben-Müssens wäre nicht weiter beachtenswert, wäre der Fußball ein Unterfangen wie das Scrabble-Spielen. Doch der Fußball ist, vor allem wegen seiner in meisterhaft orchestrierenden Teams vollzogenen Virtuosität, die uns vorbildlich erscheinen, als attraktive, verdeckt-religiöse äußere Erscheinungsform des Kapitalismus viel mehr als irgendein Spiel – er ist und wird ein Vorbildprozess, nach dem wir uns auch im Leben zu richten haben: einzeln und in Gruppen, auch Nationen, miteinander zu konkurrieren. 

Die kapitalistisch-sportliche Religion heißt also seit rund zwei Jahrhunderten:
‚Kämpfe dich gegen andere nach oben.‘

Diese generationenlangen Kämpfe haben uns bis zum frühen 21. Jahrhundert offenbar auf eine Stufe geführt, auf der wir Wohlstand und Sicherheit als zweite tragfähige Ersatzreligion fest etabliert zu haben meinen – als scheinbar sicheres Fundament für all jene von uns, die, salopp gesagt, Sterne nur beobachten, anstatt selbst nach ihnen zu greifen. Wohlstand und Sicherheit sollen uns lauwarmen Schutz vor den Anderen geben, mit denen wir auf einer scheinbar niedrigeren Stufe und weniger aufregend, als es etwa die Fußballer tun, ebenfalls ein mehr oder minder faires Konkurrenzspiel spielen um begrenzten, von den anderen getrennt zu genießenden Wohlstand und die pragmatisch (und am besten national) geteilte Sicherheit.

Aus diesem Zustand aber, aus diesem trügerischen Konkurrenz-Stabilitäts-Verhältnis, entspringt nicht nur Distanz und Abgestumpftheit gegenüber Anderen, sondern auch die Langeweile. Denn im Ziel angelangt, fühlen wir, meist unbewusst, dass der Prozess ins Leere führt – die ständige Wiederholung und Ausweitung des Gleichen, ob neue Weltmeisterschaften oder neue Produkte, die im Kern die gleichen sind, verdeutlicht die Tatsache dieser Leere nur und erzeugt, einmal kurzzeitig zum Stehen gekommen, die Langeweile. Deswegen darf der Kapitalismus nicht stehen bleiben – the show must go on, damit die Show die Langeweile verdeckt.

Nun ist aber gerade die Langeweile jene Quelle, die sowohl die Möglichkeit für die ständige personale oder auch gemeinschaftliche Neuschöpfung eröffnet – das ist der kompliziertere Weg. Sie lockt aber auch mit einem leichteren Ausweg: damit, lieber im mannschaftlichen Konsens und in gemeinsamen ersatz-ekstatischen Erlebnissen, auch den Schlachtrufen und dem ‚man‘, das uns Martin Heidegger aufgezeigt hat, ein insgesamt passives Gefühl des 'Oben' zu erleben. „Wir sind Weltmeister“ ist das Gefühl, das wir ständig anstreben – obwohl „wir“ gar nicht auf dem Platz stehen. Und so schauen wir häufig einfach zu, anstatt selbst zu „spielen“. Diese mitklatschende Passivität, das „man macht es so“ – dies ist wohl der faktische kategorische Imperativ der Moderne, der Imperativ des demokratischen und auch kapitalistischen Rechtsstaats. Ohne diesen Imperativ würden die gen Fortschritt strebenden Gesellschaften dieser Welt nicht so aussehen, wie sie es tun – und auch der Fußball hätte wohl eine ganz andere Bedeutung als die überdimensionierte, die er heute im wahrsten Sinne des Wortes: spielt.   

Das „Man“ ist es aber zugleich, welches das historisch bislang beste Spiel- oder eher Lebensfeld dafür mitgeschaffen hat, auf dem die Zielvorgaben von Wohlstand und Sicherheit nun übertreibend ihr Unwesen treiben können – das Spielfeld selbst sind die Demokratie und der Rechtsstaat mit seinen unzähligen Gesetzen, mit denen wir uns vor uns selbst schützen. Die Setzung und Befolgung von Recht, aber auch von Verhaltensmustern, die nicht rechtlich gesetzt sind (etwa durch Hollywood, die Popkultur, die Religionen etc.), durch uns und in unseren Demokratien ist nur durch das Über-Ich des transnational-national-gesellschaftlichen ‚Man‘ möglich – wir sind uns mitunter kaum bewusst, wie stark wir jenen Autoritäten, die unsere Freiheit einschränken, Stunde um Stunde, eher Sekunde um Sekunde folgen.

Viele von uns, vor allem jene, die sich zum rechten politischen Rand hingezogen fühlen, haben nun ein Ressentiment gegen solche Demokratien und den Rechtsstaat entwickelt, weil sie mit ihrer eigenen ‚Man‘-Situation – nicht nur der materiellen – alles andere als zufrieden oder vielmehr erfüllt sind. Sie fühlen sich im Kern unfrei. Und dies hat seine Ursache vor allem darin, dass wir allzu häufig die uns innewohnenden Möglichkeiten des je personalen Lebens nicht erschöpfend nutzen, uns nicht dazu in der Lage fühlen, durch das tägliche Daseins-Dabeisein gebunden sind, oder daran gehindert werden durch faktische Behinderungen und die zunehmenden Daseinsängste der komplexer und schneller werdenden Welt. Wir schwimmen vielmehr im kapitalistisch getakteten Lebensrhythmus – in dem nicht nur Zeit zu Geld wird, sondern tendenziell alles uns Umgebende. Ein guter Grund im Übrigen dafür, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen; in einer radikaleren Version würde es die Gesellschaft auf lange Sicht fundamental verändern.

Weil dies oder andere Alternativen aber nicht wirklich greifbar zu sein scheinen, weil ihre realistische Vision nicht in den Geist der Zeit durchdringt, machen viele von uns die Demokratie und den Rechtsstaat just dafür verantwortlich, dass wir selbst scheinbar nicht mehr vom Leben zu erwarten haben als möglichen Wohlstand und mögliche Sicherheit, die jetzt beide auch noch gefährdet zu sein scheinen durch die Globalisierung und die vielen neuen „Konkurrenzspieler“: die Fremden und Flüchtlinge.

Ist es so gesehen nicht eine bittere Ironie, dass Menschen, die politisch nach rechts drängen, für ihre Lage in erster Linie nicht (nur) den Kapitalismus, sondern vor allem die liberale Demokratie und den Rechtsstaat verantwortlich machen? Und ist es nicht noch viel bitterer, dass zudem Menschen, die bereits einmal schwere Opfer wurden, auch auf den potenziellen Inseln der Sicherheit erneut zu Opfern werden (können), etwa durch Abschiebung, Gewalt oder einfach nur durch die Erfahrung, als Opfer abgelehnt zu werden? Womöglich gibt es Forschungen darüber, was es mit Menschen macht, wenn ihnen so fundamentale Rechte wie jene auf Leben, Unversehrtheit und Sicherheit vor Krieg oder anderen Leiden verwehrt werden. Vielleicht sollten wir diese Menschen danach fragen? Denn was sollen sie von Demokratien halten, in denen sie eine Überfülle an Wohlstand und Sicherheit sehen, aber wenn sie, der oder die Schutzsuchende, Menschen anderer Nationalität, daran als Rettungs- und Lebensinsel teilhaben wollen, erfahren sie gefühlte Ablehnung und subtile oder offene Feindschaft. Nicht nur von den offenkundig Rechten.      

Dennoch, die Demokratie und der Rechtsstaat haben mindestens zwei wichtige, unterschiedliche Wesensmerkmale. Sie stabilisieren und befördern zwar zum einen das kapitalistische System und damit die, ungleich verteilte, Wohlstandsvermehrung. Doch sie schaffen zugleich auch eine recht stabile Plattform für Möglichkeiten alternativen Lebens und alternativer Zugänge zum Leben – auch der Möglichkeit der eigenen Entfaltung, der Wege nach oben, von den möglichst gleichen Chancen und Möglichkeiten der gemeinsamen Ebene aus. Einer Ebene, die natürlich auch wichtige sozialpolitische und juristische Elemente ihr eigen nennen sollte, auch wenn sie es mitunter nicht tut: Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung etwa, Bürger-, Zivil- und Arbeitsrechte, Bildungschancen, Stärkung des Öffentlichen gegenüber dem Privaten, Wohlstandsumverteilung etc.

Demokratie und Rechtsstaat generieren, mit Hilfe all der genannten Errungenschaften der letzten 200 Jahre, zum anderen aber auch den erwähnten überflüssigen Wohlstand, der uns erschlaffen lässt, und ein trügerisches Sicherheitsversprechen, dessen Falschheit immer mehr Menschen erkennen. Deshalb flüchten sich immer mehr von uns ins Nationale und dann – je nach Zuspitzung der äußeren Lage – das direkt dahinter folgende Nationalistische. Denn dieses verspricht eine Form eines leichten Weges nach Oben und einer Sicherheit, die verlockend scheinen. Der Nationalismus sagt verkürzt nichts anderes als das: ‚Wir können gemeinsam nach oben, als Nation, und du, als reines Mitglied, bist Teil davon‘ – natürlich in Abgrenzung zu anderen Nationen und ihren Mitgliedern, gemäß des Konkurrenzprinzips des Kapitalismus.

Doch dies ist ein schimärisches, zweifelhaftes Oben, von der langfristig zerstörerischen Energie, die aus diesem Trugbild der Höhe erwächst, ganz zu schweigen – die Geschichte ist mit dem Wahn, der diesen Vorstellungen entspringt, blutrot gepflastert. Denn im Nationalismus soll uns die bloße, teils mythisch aufgeladene Bluts- oder, in der moderneren Variante, Bodenzugehörigkeit zu einer weitgehend nur konstruierten Gruppe – und den damit verbundenen materiellen und nicht materiellen Vorteilen – nach oben hieven. Einem Aufzug gleich, der uns zum Gipfel fährt. Doch ist jemand schon mal zum Gipfel des Mount Everest oder auch zu seinen vielen kleineren Brüdern und Schwestern mit dem Aufzug gelangt – mit einem Millionen Mitglieder zählenden Team?

Die Nation ist keine Basis für ein tatsächlich gemeinsames Nach-Oben-Gelangen, wenn wir dieses als ein weit gefasstes freieres Leben für die individuellen Menschen dieser Welt begreifen. Basis für ein solches kann neben der Demokratie, dem Rechtsstaat und den darauf verwirklichten persönlichen „Aufstiegen“ nur die nahe Gemeinschaft sein, die nicht ausschließt, sondern tendenziell immer inkludiert. Eine solche Gemeinschaft kann aber nur wirkmächtig werden, wenn die Einzelnen darin sich bewusst ihrer selbst sind, als Subjekte aktiv sind und sich erst durch die frei vollzogene Aktivität und Kommunikation Zugang zu Anderen eröffnen können, mit denen dann feste Gemeinschaften, die wiederum nicht ausschließen, sondern sich erweitern, erlebt werden. Und es gibt immer mehr solcher Gemeinschaften, deren Kernmerkmal es ist, dass sie auf universelle humanistische Prinzipien setzen, nah an den Menschen sind und ihren Unmut progressiv transformieren.  

Gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Bevollmächtigung auf der nahen Basis, die sich erweitert – das scheinen die Zutaten einer künftigen, großen Umgestaltung. Damit wir aber all dies Beschriebene tun können – und immer mehr Einzelne und Gruppen in allen Teilen der Welt tun dies, erleichtert auch dank der, nicht mehr so neuen, Internet-Kommunikationsmöglichkeiten – dazu brauchen wir die Demokratie und den Rechtsstaat. Wir brauchen sie als Basis – und wir sollten deshalb gerade sie verteidigen, und nicht in erster Linie den Wohlstand und die Sicherheit. Wir sollten dies tun, wenn wir in absehbarer Zeit nicht in einer autoritären, mit starren Grenzen und blanker Gewalt durchdrungenen Welt leben wollen, wie sie in den aus unserer Sicht peripheren Regionen der Welt lange schon blutet, mit dem Iran, oder vielmehr den Iranerinnen und Iranern, konkreten unschuldigen Menschen, als Opfer einer erzkonservativ-kapitalistisch-kriegerischen Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, und geführt von einem Mann, der den Geist der Zeit in sich am vollständigsten vereinigt. Und das auch die Welt der Wohlstandsinseln genau dahin strebt, ist allenthalben zu erleben. Die weltweiten Handlungen der USA, aber auch die Entwicklungen in den Staaten selbst – die immer noch der weltweite Vorbote künftig wahrscheinlicher Wege auch für den Rest der Welt sind – bestätigen dies nur. Die Demontage des demokratischen, republikanischen Systems, so fehlerhaft es auch ist, schreitet mit Trump und seiner nur teilweise öffentlichen Interessenmaschinerie, trotz der noch standhaften checks & balances voran. Diese Politik greift wie eine wachsende Krake nach allem, und dass sie wächst, verdankt sie dem Umstand, dass sie mit Angst genährt wird.     

Es regiert schon jetzt die Angst, es soll also noch mehr Angst noch autoritärer, misstrauischer und aggressiver regieren. Angst frisst aber nicht nur die Seele auf. Sie zerstört das Gemeinsame – dass sie dazu jederzeit, auch heute und morgen, in der Lage ist, auch hier bei uns, direkt, auf den Wohlstandsinseln, daran glauben allzu viele jedoch nicht mehr.       

Demokratie ist, wie die Freiheit, kein Zustand, sondern ein permanenter Prozess, eine Basisstation, die ständig im Bau und in der Zerstörung begriffen ist – aktuell tendenziell Letzteres. Demokratie bedeutet permanente Demokratisierung und permanente Entdemokratisierung, ebenso wie personal wahrgenommene und realisierte Freiheit ja nie länger als für einen Augenblick ein Zustand, darüber hinaus aber stets ein Prozess der ständigen Befreiung und (Selbst)Unterwerfung ist. Und weil im Kern jeder und jede frei sein will, frei von Zwängen, Ängsten, frei zu einem guten Leben, wenn hier ein wenig Pathos angebracht ist – deswegen sollten wir die Sorgen und Ängste aller, die diese auch wirklich haben, berücksichtigen. Aber nicht nur in einem ethisch rechtlichen Sinne, indem wir etwa Versammlungs- und Redefreiheit garantieren, und besser wohl auch nicht von einem scheinbaren Oben der Besser-Wissenden und postmodern angeblich Aufgeklärten herab. Warum nicht lieber authentisch, staunend und tief auf Augenhöhe? Hier sehen wir – um hier für einen Moment dem 'man' seinen Drang in das Dasein zu versagen – am klarsten.

Wie wir das, was wir in diesen vielen Augen sehen können, in ein auch gesellschaftliches Narrativ kleiden können, das den an Kraft zunehmenden Nationalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen und das Schiff in neue Richtungen zu lenken vermag – Antworten darauf werden weltweit und händeringend gesucht, und immer mehr gefunden. Eine davon: die Nationalgrenzen lieber weiter nach unten drücken, im physischen und intermenschlichen Sinne, und nicht nach oben ziehen. Das Jahr 1968 scheint da ein guter Anknüpfungspunkt. Vielleicht entfaltet es jetzt, ein halbes Jahrhundert nach seinem nicht wegzudenkenden Beginn seine zweite, neue Jugend – oder die heutige Jugend, und nicht nur sie, entfaltet ihr eigenes 2018. Das nicht Modemarke wird, sondern Inhalt.   

Denn Freiheit ist kein Produkt, Freiheit ist kein Wohlstand – sie ist die Offenheit der Zukunft, der stets neue Anfang. Und nicht nur, aber vor allem „die Nacht“, schreibt Wallace Shawn in seinem feinen Essay, „die Nacht gibt uns Gelegenheit, die Möglichkeit abzuwägen, dass wir, wenn der Tag kommt, noch einmal neu anfangen könnten, anders.“      


[1] Sören Kierkegaard: „Entweder – Oder. Teil I und II“. DTV, 12. Aufl. (2005), S. 331
[2] „1968“. Sonderheft des Wochenmagazins „Polityka“ (Polen), 2018, S. 83
[4] Tony Judt in: „1968“. Sonderheft des Wochenmagazins „Polityka“ (Polen), 2018, S. 99
[5] Wallace Shawn, “Nachtgedanken”, in:  Lettre International, Nr. 119, Winter 2017, S. 7-18 (17)
[6] Berdjajew, Nikolai: „O przeznaczeniu czlowieka“, (Poln. Ausgabe), Kety, 2006.
[7] Peter Sloterdijk: „Du musst deine Leben ändern“, Suhrkamp Verlag, 2009.



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Februar 2018


Milch und Honig

Das Leben ist tragisch und bitter. Doch anstatt dieser Tatsache eine authentische Dramatik und Süße entgegenzusetzen, greifen wir lieber zum billigen, betäubenden Ersatz: dem Zucker. Dabei gibt es Alternativen. Von Jan Opielka



Zugegeben, es ist eine schwer vorzustellende Vision. Doch tun wir es für einen Augenblick. Stellen wir uns eine Welt vor, in der wir 95 Prozent Zucker weniger schluckend in uns hineinschleusen. Zucker – diese am weitesten verbreitete Droge dieser Erde. Sie ist überall, wo wir es als selbstverständlich annehmen, und überall, wo sie alles andere als selbstverständlich ist. Fast überall ist diese global wirkmächtigste Droge gegenwärtig – Droge in ihrer Funktion als Betäubungsmittel. Und sie ist für uns in ihrer vehementen Wirkung mitunter nicht sichtbar und ein zuckerloses Leben selten fühlbar, weil wir sie alle und ständig nehmen, in ihr schwimmen - symbolisch und faktisch. Jedes Jahr werden weltweit 175 Millionen Tonnen Zucker produziert, in Deutschland liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei rund 35 kg im Jahr – vor 150 Jahren waren dies noch rund 6 kg. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät dringend, den täglichen Zuckerkonsum zu reduzieren: Nur 5 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs, so die WHO, sollte mit Zucker gedeckt werden.



Es ist der Stoff, ohne den die Welt anders aussähe, weil die Menschen anders agieren würden. Denn Zucker legt einen Schleier um unsere Wahrnehmung und setzt alles in ein dezentes, verzerrendes Rosa. Wenn wir durch einen großen rosa Filter die Welt betrachten, dann ist der Eindruck, den wir so erleben, ein ähnlicher, dem unser anderes, auf tieferen Schichten gelagertes Bewusstsein fast ununterbrochen ausgesetzt ist, wenn wir es durch den rosa Zuckerschleier verunstalten: Es nimmt die Welt wahr, wie sie mit recht großer Wahrscheinlichkeit nicht ist. Die Welt ist nicht rosa und auch nicht so, wie es hinter diesem rosa Filter den Anschein macht. Der Zucker aber nimmt uns das unverstellte Staunen über all die anderen Farben, er zerfasert unser tiefes Wollen des Anderen und die Wut auf die Bitterkeit des Lebens, die sich progressiver und vehementer ins Werk setzen könnten, ließen wir den rosa Zuckerschleier beiseite. So aber wird Zucker zum Ersatz für nicht vorhandene Nähe zu sich, zu der Welt als solcher und zu den Menschen.



Es gibt mindestens zweierlei Arten von Drogen. Da sind jene, die uns per se keine Bewusstseinsdehnung ermöglichen, weil sie unser Bewusstsein vielmehr mit einem Schleier umspannen. Denn wenn wir durch den konsumierten Zuckerschleier durchbrechen, fühlen und sehen wir nur bauchschmerzende Leere. Zucker gehört zu eben dieser Art von Drogen, die fast ausschließlich Betäubungsmittel sind. Er gehört nicht zu jenen, die zwar ebenso als Schleier wirken können, aber die, einmal ihrer Schleierfunktion entledigt, uns auch als ein Instrument dienen können – zum schöpferischen Handeln im weitesten Sinne. 



Wenn etwa der Dichter Dylan Thomas seine wilden Verse in alkoholgetränkten Nächten aufs Papier niederschmetterte, dann war er, so können wir wohl annehmen, in seinem Bewusstsein sehr nah an sich, der Welt und den Menschen. Und er konnte den Alkohol zumindest zeitweilig beherrschen, beherrschen im Sinne von Nutzen – als Instrument mit tödlichen Nebenwirkungen. Ähnliches gilt wohl auch für andere Arten so genannter weicher und harter Drogen und ihren Einfluss auf die nicht risikofreien Reisen ins Innere. 



Dylan Thomas starb früh, in direktem Zusammenhang mit seiner Alkoholsucht. Seine Gedichte, vor allem das Stück „Under the Milkwood“ (Unter dem Milchwald) sind Teil des britischen Literaturkanons. Jedes Jahr sterben Millionen von Menschen weltweit an Zivilisations- und Wohlstandskrankheiten, an deren Entstehung der hohe Zuckerkonsum und das daraus resultierende Übergewicht maßgeblichen Anteil haben. Wenn es jenseitige Milchwälder geben sollte, so duften und schmecken sie all diesen Menschen nun hoffentlich erhabener als der süße Stoff, der sie diesseits um ein längeres Leben brachte. Hätten sie nur mehr – küssen dürfen und können.     



Denn zu Recht sagen die Menschen seit jeher, nichts schmecke so süß, so gut, wie ein Kuss der Geliebten, des Geliebten. Vielleicht wären also mehr von solchen Küssen der beste Ersatz für den Zucker – und nebenbei ein präventives Mittel gegen einen sinnlos verfrühten Tod? Ach was, natürlich ist umgekehrt der Zucker der Ersatz für die fehlenden Küsse – er würde wohl von ganz alleine verschwinden, küssten wir nur mehr. Denn die Süße des innigen Kusses ist nicht der Berührung als solcher geschuldet, sondern dem Menschen, den wir küssen. Ist das nicht der eigentliche Clou der oder die andere, die uns ebenso innig küsst? Wenn dies so ist, können einseitige Küsse und Berührungen nie süß sein in dem Sinne der eigentlichen Seinsweise des Süßen, also dem beiderseitig empfundenen Gefühl der wohltuenden, zur zeitweilig unendlichen Vereinigung mit dem Anderen drängenden Nähe.  



Zuckergenuss ist einseitig, er ist der Ersatz für diese Küsse - und noch für viel mehr. Er ist der Füll- und Verdrängungsstoff für unsere weit gefasste Angst. Denn Ängste sind wie riesige, leere Behälter, deren Vakuumsog nach sofortiger Füllung drängt. Weil wir uns selbst nicht vertrauen, dass wir diese leeren Behälter mit anderen, von uns selbst frei kreierten Lösungen füllen können, schütten wir sie mit Zucker voll. Der Preis dafür ist der gleiche, den die Menschen in Aldous Huxleys „Schöner neuer Welt“ zahlen mussten: eine Beduselung bis zum nicht mehr wahrgenommenen Bewusstseinsverlust, dem Verlust des bewussten Kontaktes und der Reflexion unseres Selbst. Huxley hat unsere heutige Welt meisterhaft vorausgesehen, auch wenn er dabei nicht alle Einzeldrogen erahnen konnte, die wir heute in Form etwa von Produkten der Entertainment- und Wohlfühlindustrie täglich zu uns nehmen – mit dem Zucker als steten und treuen Begleiter in Hand und Mund.    



Wir lernen diese Verhaltensweise früh. Bereits unsere Kinder setzen wir frühzeitig auf die Zuckerdroge. Dies keinesfalls nur dadurch, indem wir den Kindern erlauben, auch das noch schrecklichst zusammengebraute Versüßte zu essen, das wir nur mit stark verzerrter Phantasie überhaupt noch als Essen beschreiben können – oder meinen sie, Nutella sollte wirklich als „Lebensmittel“ bezeichnet werden? (Dass dieses schokolade-ähnliche Produkt Eingang in unsere regulären Mahlzeiten – die lebensnotwendige Nahrungsaufnahme – gefunden hat und aufs Brot gestrichen wird, entbehrt im Übrigen nicht einer bitteren, nicht bittersüßen, Symbolik.) Doch nicht nur durch den Konsum, auch durch die Formen und Kontexte der Zuckervergabe setzen wir unsere Kinder auf Drogen – wir betäuben sie. Wenn wir Kindern Süßigkeiten schenken, wenn sie etwas Tolles gemacht haben, tun wir im Prinzip nichts anderes, als würden wir einem Hund sein Lieblingsstück zuwerfen, weil er brav war. Was tun wir dabei mit Kind und Hund? Wir erziehen sie dazu, sich selbst und ihre Handlungen unter die Kuratel des süßen Preises und des Preis-Vergebenden zu stellen, von welchen sie, nach vielfach wiederholter Übung des Verhaltensmusters, ihre Handlungen abhängig machen. Dieses Verhaltensmuster – ich tue etwas, um etwas scheinbar Wohltuendes zu bekommen, und nicht darum, weil ich es tun will, eine immanente Motivation spüre, weil diese Handlung gerade den momentanen Willen auf meinem Lebensweg ausdrückt – übertragen wir dann auf die Belohnung mit anderen Preisen, die wir vom Leben erwarten: Geld, Ruhm, Siege. Wir erziehen unsere Kinder und uns damit zur Unfreiheit, der Zucker wird damit zu einem süßen Instrument der Zähmung der wilden Freiheit der Kinder. Und wir sind und bleiben ja irgendwie alle Kinder, für immer.  



Eine kluge Wissenschaftlerin, ich weiß ihren Namen nicht mehr, sagte einmal in einem Zeitungsinterview, sie trinke Kaffee nie mit Zucker und esse keinen Kuchen – denn purer Kaffee mache angriffslustig (und sie meinte wohl den konstruktiven, nicht zerstörerischen Kern der Angriffslust), Zucker aber mache zahm. Wir werden in der Tat zahm und gemütlich. Und mit Verlaub: die Gemütlichkeit wird in ihrem positiven Kern deutlich überschätzt. Oder haben Sie schon einmal ein in seinem Freiheits- und Kreativitätsdrang nicht betäubtes Kind gesehen, das sich nach Gemütlichkeit sehnt? Kinder sehnen sich nach Geborgenheit und Wärme, nicht nach Gemütlichkeit, die vielleicht in homöopathischen Dosen prima sein kann. Im Übermaß aber macht sie uns, ebenso wie der Zucker, innerlich und äußerlich träge.

Und: wir verlernen das wirkliche Schwimmen, wenn wir in das Zucker-Meer steigen. Denn das Schwimmen im Zucker gleicht nicht dem Schwimmen in einem klaren, kalten See.



Der Zucker trägt uns vielmehr

wie das salzige, Tote Meer.



Und dass sich dies gerade gereimt hat, ist wohl kein Zufall. Alle von uns, die versucht haben, im Toten Meer zu schwimmen, also: richtig zu schwimmen, intensiv und fließend und tauchend, wissen nur allzu gut um die Wirkung, die der gesteigerte Salzgehalt auf das Wasser und damit auf unsere Schwimm- und Tauchmöglichkeiten hat. Ich habe die Erfahrung leider nicht selbst gemacht, berichte aber von glaubwürdigen Tätern. Würde alles beschwimmbare Wasser der Welt dem des Toten Meeres gleichen, würden wir Menschen wohl nie richtig schwimmen lernen – wir hätten es kaum gelernt, das Schwimmen nicht in Form von Vorwärtsbewegung, sondern in Form des autonomen und gekonnten Über-Wasser-Halten- und In-die-Tiefe-Tauchen-Könnens. Die weiter gedachten Analogien zwischen Zucker und Totem Meer – allein der Name des sagenhaften Salzsees und sein unaufhaltsamer Aderlass – machen mir derart bange, dass ich gar nicht weiterschreiben mag.    



Eins möchte ich aber doch noch sagen. Diese Zeilen schreibt kein vom Zuckerdrang Befreiter, vielmehr ein Zuckerjunkie, der regelmäßig Niederlagen an den überzuckerten Fronten des täglichen Seins und Scheiterns hinnimmt; die letzte vor zwei Stunden. Somit ist dieser Text, sie erlauben, auch eine Therapie, ein Instrument für eine künftig bessere Selbstwahrnehmung. Ein Weg scheint mir dabei klar: die 95 Prozent, von deren Reduktion wir anfangs sprachen, müssen irgendwie anders gefüllt werden, und ein Fokus auf die Vermeidung ist, so die Erfahrung, nicht der rechte Weg. Denn, wie ein buddhistisches Sprichwort sagt: worauf wir uns konzentrieren, das wächst. Und es gibt ja Gott sei Dank viele andere Sprichworte, die Hinweise darauf geben, worauf wir uns konzentrieren können. 



Vielleicht also zuckerfrei nach Stichworten suchen, um sie dann zu Erzählungen zu entfalten, die dann wiederum die 95 Prozent Zucker obsolet werden lassen, ganz ohne Konzentration auf das Vermeiden? Nur, wenn wir den Zuckerkonsum und die Zeit danach mit durchdringenderen Gedanken und Handlungen zu füllen vermögen, werden wir uns wirklich von ihm befreien. Und alle Zwangsdiäten der Welt – die Konzentration auf die Vermeidung also – können in den Mülleimer der bittersüßen, nicht tragischen, Geschichte wandern.   


Theoretisch angenommen, es gelingt – fünf Prozent Süßebedarf bleiben, weniger geht nicht. Ist gar lebensnotwendig, nicht nur für unsere physische Gesundheit, sondern auch für unseren Geist. Vielleicht dann aber in seiner wohl formvollendeten Geschmacksform - dem Honig? Am besten in einem Glas Milch. Hier, so scheint es, ist das Süße an seinem rechten Ort.



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September 2017

Gehe mir nicht in die Sonne
Nicht das, was uns leitet, sondern das, was uns trägt, ist das Fundamentale – um darauf zu bauen, dafür brauchen wir keinen andere Leitung, denn uns selbst. Ein kleines Plädoyer für eine große Grundkultur.
Von Jan Opielka

Die Weisheit von Kindern ist ein alltägliches Wunder. Immer wieder ist sie zu erleben, wenn Kinder mit ihren Fragen, Feststellungen und Formulierungen einen Kern in unseren äußeren und inneren Welten zu treffen vermögen, der uns, je nach Standpunkt, erschauern oder jauchzen lässt. 15 Jahre ist es her, da ich als Lehramtsstudent in einer 7. Klasse den Versuch unternahm, Politik zu unterrichten. Wir sprachen über Integration, Fremdes und Vertrautes, Migranten – und die vermeintliche Leitkultur. Mit ihren zerzausten Köpfen wussten die jungen Menschen äußerst klar und vielschichtig zu argumentieren. Und ein Begriff, den eine der Schülerinnen ins Gespräch brachte, hat sich bis heute in meinem Kopf einen festen Platz gesichert: Grundkultur. Ja, Grundkultur, dies sei, so die Schülerin, im Gegensatz zur Leitkultur die eigentliche Basisformel, nach der eine Gemeinschaft und ihre Mitglieder – ob neue oder alte – sich zu richten hätten.



Viel Zeit ist seither vergangen, doch von Grundkultur scheinbar keine Spur – ganz im Gegenteil. Das Land, und nicht nur dieses, wird seit 2015 von rechter Seite derart geschüttelt, dass inzwischen die Alterative für Deutschland im Bundestag ihre Angst-Politik in die Öffentlichkeit trägt, sich das neue Heimatministerium mit Horst Seehofer als konservativen Revoluzzer zur Speerspitze für die volkstümelnde Leitkultur mausert und der Islam wohl nicht mehr zu Deutschland gehören soll. Auch in der CDU geben immer stärker Politiker vom Schlage eines Jens Spahn die Stichworte vor. „Nicht jede andere Kultur bereichert uns“, sagte der heutige Gesundheitsminister bereits im Jahr 2017. „Das Ziel von Integration ist eben nicht ein Multikulti-Mischmasch von allen, die sich hier zufällig treffen. Es geht darum, Teil unserer deutschen Gesellschaft zu werden, die wegen ihrer Leitkultur, ihrer Werte und Prinzipien wirtschaftlich so erfolgreich ist und in der jeder in Freiheit leben kann.“ Die neue Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, sagte zwar vor kurzem, sie möge den Begriff Leitkultur „nicht sonderlich, denn er führt uns nicht weiter“. Man müsse sich vielmehr darüber verständigen, „was Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Gewaltlosigkeit als Grundfesten unseres Zusammenlebens bedeuten“.



Doch bereits im Jahr 2017 hatte ihr Parteikollege, der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizičre, einen zehn Punkte umfassenden Katalog einer „deutschen Leitkultur“ vorgelegt. „Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark“, schrieb de Maizičre damals. Viele der Aspekte, die er dabei aufgelistet hat – Zivilkultur des Kompromisses, der weltanschaulich und religiös neutrale Staat, die Bedeutung der Allgemeinbildung und Kultur, die Verantwortung für die eigene Geschichte, soziale Gewohnheiten – waren wohl formuliert, einleuchtend und sind als solche ein vernünftiges Fundament einer politischen Gemeinschaft. Entscheidend aber ist, dass sie im Großen und Ganzen nicht spezifisch deutsch, vor allem jedoch, dass sie Teile eines gesellschaftlichen Fundamentes sind, das keiner Hierarchie und keiner Leitung bedarf. ‚Wer sich seiner sicher ist, braucht keine Leitung‘, könnte nicht nur dem Ex-Minister entgegnet werden.



Nun ginge es freilich darum, sicherer und freier zu sein. Und dies geht wohl nur über eigene Leitung, das Leiten (des Lebens) persönlich und in Gemeinschaft muss ein jeder selbst übernehmen – eben auf einem stabilen, auch politischen Fundament. Daher ist die Perspektive einer Grund- statt einer Leitkultur beachtenswert – nicht nur von der Wortschöpfung her. Denn während Leitkultur bereits durch die Konstruktion des sie beschreibenden Begriffs eine definierte Zielrichtung setzen möchte, jenseits der offenbar nicht gehandelt werden sollte, erschiene in diesem Lichte betrachtet Grundkultur als ein riesiges Feld der Gegenwart, auf dem ungekannte Zukunftsoptionen gesät werden können. Das Wie ist dabei jedoch den Einzelnen oder auch den kleineren und größeren Gruppen überlassen. Auf diesem breiten Grund können wir das weit gefasste Leben persönlich und kollektiv verwirklichen.



Dieser Grund, dieser kulturell fruchtbare Boden ist teilweise formell verankert, in Deutschland etwa im Grundgesetz – vielleicht auch daher ist die junge Schülerin ganz intuitiv in die Denkrichtung von Jürgen Habermas vorgestoßen, der einst den „Verfassungspatriotismus“ propagiert hatte. Eine Grundkultur aber, die nicht als in Stein gemeißelte, sondern ausformbare Möglichkeit von unterschiedlichen Lebens- und Gesellschaftsentwürfen aufgefasst wird, geht noch über eine politisch-rechtliche Verfassung hinaus. Denn unter oder eher auf dem formell in Gesetzeszeilen erfassten Fundament kann es darüber hinaus gehende Basisstationen geben, die auf einem anderen, aber (noch) nicht gesetzlich festgeschriebenen Boden von uns zum Wachsen gebracht werden. Wenn die Qualität oder Beschaffenheit dieses anderen Bodens individuell und kollektiv beackerbar ist, niemanden in seiner Bodenfreiheit verletzt und generell lebensbejahende Ergebnisse zeitigt – etwa im Sinne von Immanuel Kants Imperativ, demnach nach jener Maxime zu handeln sei, von der wir wollen können, dass sie allgemeines Gesetz würde – dann kann dieser zusätzliche Boden Teil einer Grundkultur werden, auch wenn er (noch) nicht Teil einer kodifizierten Verfassung oder sonstigen Gesetzen ist oder nur vage aus solchen herausgeleitet werden kann.



Ein noch recht junges Beispiel ist die nach vielen Jahrzehnten Auseinandersetzung im Sommer 2017 beschlossene ‚Ehe für Alle‘ – langfristig wirkmächtig war hier unter anderem das Argument der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung von Menschen, die durch ihre Homosexualität niemanden etwas Schädliches antun (im Gegenteil) und sich somit eindeutig auf einem grundkulturellen Boden bewegen. Frei nach Kant: Gestatte allen, dies zu verwirklichen, was auch du für dich wollen kannst; in diesem Fall eine andere Person voll lieben zu dürfen – auch im Rahmen der ‚sozialen Gewohnheit‘ (siehe de Maizičre) der Ehe. In der Logik einer „deutschen Leitkultur“ von vor, sagen wir, 30 Jahren, wäre diese neue Bodenpflanze nie und nimmer Teil eines seinerzeitigen Leitkultur-Katalogs geworden. Auf dem Boden der Grundkultur, schon auf Basis der allgemeinen Menschenrechte, konnte sie unter schwierigen Bedingungen gedeihen. Bezeichnend ist dabei, dass dies nicht nur in Deutschland geschehen ist, sondern vielmehr in zeitlich nur unmerklich versetzter Parallelität auch in anderen Staaten, die über einen ähnlichen grundkulturellen Boden verfügen. Die ehemalige Intergrationsbeauftragte Aydan Özoguz hatte womöglich diese global wirkmächtigen Kulturentwicklungen im Sinne, als sie im vergangenen Jahr schrieb: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht zu identifizieren.“



Doch Özoguz hatte nicht ganz Recht. Denn eine deutsche Kultur – eine, die sich stets wandelt – gibt es natürlich. Doch „spezifisch“ deutsche Elemente, die sich etwa aus nationalen Mythen, Traditionen, der Geschichte, der Literatur usw. zu dem verbinden, was als „deutsch“ gilt, durchdringen sich, in der vernetzt globalisierten Welt von heute zumal, mit Elementen, die nicht „spezifisch deutsch“ sind – und diese global wirkmächtigen Phänomene nehmen in den letzten Jahrzehnten und im Rahmen der weit gefassten Globalisierung Überhand über das spezifisch Nationale. Daher der Aufschwung der rechten und nationalistischen Parteien in so vielen Ländern. Zur Globalisierung gehören jedoch nicht nur der aus dem Ruder laufende Neoliberalismus, sondern auch progressive Prinzipien, wie der Schutz von Minderheiten, der historisch und durch Erfahrungen von Kolonialismus, aber auch von Migration gewachsene Antirassismus oder die universellen Menschenrechte. Diese Realität, diese Dehnung oder Erweiterung neuer alter grundkultureller Prinzipien trifft dabei nicht nur auf autoritär regierte Staaten zu, sondern auch auf formell demokratische, in denen die Bürger des besagten Landes auch Lücken in den Verfassungen oder den einfachen Gesetzen erkennen und diese in der Folge geändert werden können. Und auch regelmäßig werden, wenn auch nicht immer in so progressiver Richtung, wie oben am Beispiel der gleichgeschlechtlichen Ehe umrissen.



Doch nicht alles Grundkulturelle muss auch Grundgesetzliches oder auch überhaupt Juristisches sein und werden. Dieser wunderbare Begriff der intuitiv denkenden Schülerin hält nämlich noch ein weiteres, tiefschichtiges Element parat: Dieses geht, so könnte man beinahe sagen, der Sache auf jenen Grund und Boden, auf dem wir alle leben. Denn Grundkultur ist prinzipiell universell, sie kann, meist in abgewandelten Ausformungen und Kolorierungen (auch den nationalen), in fast jedem Flecken der Welt verortet werden. Wenn wir uns etwa die Lebenssphäre rund um das Phänomen Familie näher anschauen, können wir feststellen, dass prinzipiell in nahezu allen uns bekannten Kulturräumen für die Eltern die Erziehung ihrer Kinder bedeutend, wunderbar und nervenzehrend ist (und sie zu ihr traditionell, rechtlich und zumeist auch liebend verpflichtet sind, und diese Pflicht verinnerlichen); dass die Großeltern ihre Enkel und Enkelinnen über Maß verwöhnen (was sie auch tun sollten…); und dass Fremdgehen, aber auch die große, lebenslang währende, sich entfaltende Liebe keine nationalen Besonderheiten sind. Die Grundkultur in den Sphären ‚Familie‘ und ‚Liebespartnerschaft‘ könnten wir also mit ‚sich kümmern‘, ‚begleiten‘, ‚aus gewählten und vorgefunden Beziehungen das Beste machen‘ und, nun ja – ‚lieben‘, beschreiben.



Aufschlussreich und bereichernd ist es, Menschen explizit auf solche Kontexte der Grundkultur hin zu begegnen. Und natürlich auch in vielen anderen grundsätzlichen Aspekten, jenseits aller Leitung und Hierarchie – der Bedeutung von Freundschaft oder der Arbeit etwa, des inneren und äußeren Glaubens oder Nichtglaubens, des je persönlichen Stellenwertes von Freiheit und vielem mehr. Alles gute Gründe, Anderen wirklich zu begegnen. Und alles Prozesse, die selbst einen markanten, universellen Aspekt von Grundkultur generieren: den offenen Dialog. Dessen Grenzen sehen wir nicht, denn er hat prinzipiell keine objektiven Grenzen, und es ist gerade der Dialog, der selbst das Potenzial zur Sprengung von Grenzen birgt. Auch daher der Widerstand von rechts gegen alles Multi-Kulturelle, denn die Rechten wollen den gleichgewichteten Dialog nicht, sie wollen stets das größere Gewicht, die größere Macht für sich, weil sie Kulturen und ihre Reibungen als ein Nullsummen-Spiel erachten, nicht als die mathematisch nicht belegbare Tatsache, dass die Summe für alle Beteiligten mehr ergeben kann als die addierten Einzelteile.



Es gibt noch einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen einer dialogisch-dialektisch verstandenen Grundkultur und einer national zu geltenden Leitkultur. Denn die Leitkultur-Propagandisten stellen sich mit ihrer Argumentation von vornherein und indirekt auf die wissende, die leitende, die ‚richtige‘ Seite. Wer Leitkultur propagiert, der vermittelt zugleich: ich bin Teil eben dieser Kultur, die ich propagiere. Das ist der Trick, mit dem die Hackordnung erzeugt wird, die aber gefährlich ist: wer seine Hierarchie erzeugenden Ideen gegenüber anderen Menschen und deren Ideen durchsetzt, der leitet.



Doch dass der Begriff der „Leitkultur“ letztlich in Leere läuft, weil das darin ausgedrückte inhaltliche Versprechen, das Versprechen einer national-kulturellen Orientierung in unsicheren Zeiten, nicht einlösbar ist, hat inzwischen auch Horst Seehofer erkannt. „Für mich ist der Begriff der Heimat zentral, weil er in seiner Vielfältigkeit weniger streitbelastet ist als Leitkultur oder Nation“, schrieb Seehofer im Mai vergangenen Jahres in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart gibt es unzählige imposante Beispiele für die Fähigkeit Deutschlands, unterschiedlichsten Menschen zur Heimat zu werden“, schrieb der an rechtspopulistischem Eifer nicht unbegabte Minister. Heimat indes konnte Deutschland immer dann werden, wenn es, Einheimischen wie Einwanderern, feste Fundamente geben konnte: rechtlichen Schutz und Sicherheit für Leib, Leben und Gesundheit; vielfältige Möglichkeiten zur Bildung, Arbeit und Entfaltung; hierarchiefreie Räume für Ideen, Widerstand und für neue, hybride und vielsprachige Antworten auf die Herausforderungen von Welt und Zeit.



Heimat, dies ist der weit gefasste Grund und Boden, auf dem ich im weitesten Sinne bauen kann – und nicht die fürsorgliche (Politiker)Hand, die mich leitet. Denn wie würden etwa Filme eines Fatih Akin aussehen, hätte er in seiner deutschen Heimat nicht die deutschen und türkischen Pflanzen gleichermaßen gesetzt und wären sie nicht zusammen mit vielen anderen zu dem einzigartigen Garten-Kaleidoskop emporwachsen, das über die Leinwände dieser Welt hinaus strahlt? Menschen wie Akin, von denen es in Europa Millionen gibt, sind keine 'Brückenbauer zwischen den Kulturen', etwa der türkischen und der deutschen. Sie erweitern vielmehr die Kultursphäre als solche, die in bestimmten Räumen wirkmächtig wird, und tragen zu jenem Prozess bei, der als „kultureller Wandel“ beschrieben wird.



Beim Thema Homosexualität war der kulturelle Wandel im Übrigen nur deshalb möglich, weil eine wachsende, kämpferische Minderheit den über Jahrhunderte wirkmächtigen Leitgedanken, Homosexualität sei abnormal, durch das Bohren dicker Bretter in seine Einzelteile zerlegte und auf dem fruchtbaren Boden der Grundkultur neue Saat austragen konnten, deren Früchte wir nun ernten. Und – es sei ein wenig utopisches Pathos gestattet – wenn wir diese Früchte, und viele andere für Menschen kostbare, auch in andere Gärten und Felder trügen – etwa in jene, in dem das Nationale immer noch als Wiege der Kultur erscheint, wie einst die heterosexuelle Ehe und Familie als Wiege der Moral – erweiterten wir die Grundkultur bis an einen Punkt, von dem aus der Horizont des Möglichen uns innehalten ließe wie der bestirnte Himmel einst Immanuel Kant.



Eine der ungeschriebenen Regeln bei Texten wie diesen ist es, am Ende erneut an den Anfang anzuknüpfen – ein stilistisch-rhetorisches Element, das Menschen der schreibenden Zunft seit Jahrzehnten, Jahrhunderten entwickelt haben. Ein kleines Element im großen Baukasten der fundamentalen, universellen, wunderbaren Kulturtechnik des Schreibens. Also: dass diese Gedanken überhaupt hier stehen, das geht auf eine seinerzeit 13-Jährige Schülerin zurück, die heute 28 Jahre alt ist, und deren Namen ich leider nicht mehr weiß. Weil sich aber die folgende Aussage und ihre in der Regel nicht unbedeutende Wirkung, so meine ich, in der langen Geschichte der Menschen ebenfalls als fruchtbares Moment der universellen Grundkultur etabliert haben, und sie manchmal auch über denkwürdige Umwege ihr Ziel findet, mag ich sie an dieser Stelle ganz deutlich hervorheben:

Ich danke Dir!



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