Und sie wiederholt sich
doch
oder
Der sanft lächelnde
Kriegstreiber
Wohl noch nie seit dem 24. Februar 2022 sind die Parallelen
zwischen dem Ukraine-Krieg und dem Ersten Weltkrieg so offenbar
geworden, wie dieser Tage – nunmehr durch
eine verantwortungslose Forderung der USA, die jede Grenze der
Kaltblütigkeit sprengt. Von Jan Opielka
Der amerikanische
Schriftsteller Marc Twain schrieb einmal: „Geschichte wiederholt
sich nicht. Aber sie reimt sich.” Tatsächlich? Lassen sie es uns
prüfen.
Der Oscar-prämierte Film „Im
Westen nichts Neues” aus
dem Jahr 2022,
auf Grundlage des gleichnamigen Buches von Erich Maria Remarque,
zeigt eindrücklich die Sinnlosigkeit des Gemetzels des Ersten
Weltkriegs. Und er zeigt, wer an der Front stirbt – und wer, weit
hinter der Front, nicht stirbt. Besonders ergreifend sind im Film die
Schlussszenen, in denen das Ende des Krieges bereits besiegelt ist.
Und doch gibt es einige, die sich weigern, dies zu akzeptieren. Es
sind jene ohne Waffe in der Hand, die aber über die Macht verfügen,
andere zum Kampf oder zum Rückzug zu befehligen. Es sind nicht sie,
die für ihren Mangel an Verantwortung bezahlt haben. Nur die jungen
Männer. In der konkreten Szene, die ein Abbild der schwer
vorstellbaren Realität der realen Schützengräben war, der
junge
Paul Bäumer,
der heimfahren, der leben sollte und könnte, doch dessen
Vorgesetzter unbedingt noch einen kleinen Ort einnehmen
wollte.
„Wir
erobern die Ebene noch vor 11 Uhr, und beenden diesen Krieg mit einem
Sieg“, schreit der General den Soldaten entgegen.
106 Jahre und einen Monat
später. Der scheidende US-Außenminister Antony Blinken sagt nach
einem zweitägigen Treffen mit Amtskollegen der Nato-Staaten in
Brüssel am 4. Dezember in einem Interview mit der Nachrichtenagentur
Reuters folgende Worte zur Kriegführung der Ukraine: „Wir sind der
Meinung, viele von uns sind der Meinung, dass es notwendig ist,
jüngere Menschen in den Kampf einzubeziehen. Im Moment sind die 18-
bis 25-Jährigen nicht im Kampf.”
Wen Blinken mit „wir” meinte, blieb zunächst unklar. Es gab zu
dem Thema keine gemeinsame Erklärung der anderen Außenminister.
Doch auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte, der zwar keine Konkreta
zu dem Alter der zu rekrutierenden Soldaten nannte, sagte bei dem
Treffen in Brüssel: „Wir müssen natürlich auch dafür sorgen,
dass genügend Leute in der Ukraine zur Verfügung stehen. Wir
brauchen wahrscheinlich mehr Leute, die an die Front gehen.“
Blinken sagte diplomatisch pflichtschuldig, es sei natürlich und
letztlich die ukrainische Führung, die in dieser Frage entscheiden
müsse. Und er betonte, Kiews Verbündete würden sicherstellen, dass
alle mobilisierten Truppen die notwendige Ausbildung und Ausrüstung
erhalten. „Die Verpflichtung, die wir als Bündnis und als Länder,
die die Ukraine unterstützen, haben, besteht darin, sicherzustellen,
dass wir für jede Truppe, die mobilisiert wird, Ausbildung und
Ausrüstung zur Verfügung stellen.”
Das Problem ist die Distanz
Die Perfidität der Forderung,
18-Jährige in einen Krieg zu schicken, der von Beginn an vermeidbar
war, einen Monat nach seinem Anfang hätte zu Ende gehen können,
und nun angesichts von Trumps kommender Präsidentschaft womöglich
zu einem Ende kommen könnte, würde schlagartig klar, wenn wir die
Distanz zwischen den Fordernden – Blinken & Co – und den
Aufgeforderten – 18-25-jährige ukrainische Männer – aufhöben.
Stellen wir uns
eine konkrete
Situation vor, die
das von Blinken geforderte lediglich in eine andere Szenerie setzt:
der 62-jährige
stets besorgt-besonnen
wirkende,
sanft lächelnde
Blinken würde vor Pressekameras einem ukrainischen 18-jährigen,
nennen wir ihn Dmytro
Kovalenko,
ein US-Maschinengewehr in die Hand drücken. Der junge Mann wäre
etwa ein frisch gebackener Kfz-Mechaniker, der gerne
Science-Fiction-Filme schaut, vor drei Monaten seine erste Freundin
traf und von einer Reise zu den ägyptischen Pyramiden träumt.
Blinken würde
Dmytro
gegenüber die
gleichen
Worte sagen, die er tatsächlich verwendete: „Dmytro,
wir sind der Meinung, dass es notwendig ist, jüngere Menschen in den
Kampf einzubeziehen. Wir verpflichten uns, sicherzustellen, dass du
eine gute Ausbildung und Ausrüstung erhältst, um gegen die
russischen Invasoren zu kämpfen, die immer größere Teile deines
Landes erobern.”
Gut möglich, dass der fiktiv-reale Dmytro
Kovalenko,
als
er das Maschinengewehr von Blinken erhielte, noch leise fragte.
„Wollen sie mit mir gemeinsam kämpfen gehen? Sie sind älter und
erfahren. Ich bin jung und ich habe Todesangst.”
Würde der
US-Diplomat einer solchen Zeremonie konkreter Mobilisierung
zustimmen? Wohl kaum. Und dass nicht nur deshalb, weil, vor allem in
Deutschland, sich bei diesem Anblick allzu viele Menschen jene Bilder
vom April 1945 in Erinnerung rufen würden, als Adolf Hitler
minderjährige Jungs vor ihrem letzten Kampf lächelnd an den Wangen
streichelte. Sie bedeutete vor allem Nähe, in der das Reale des
Krieges plötzlich nahe – und für Viele unannehmbar wäre. Würde
Blinken, wäre er selbst Ukrainer, seinen eigenen 18-jährigen Sohn
in den Kampf schicken?
Es ist kein Zynismus, der mich
solche semi-fiktiven Worte und Szenen schreiben lässt. Es ist die
blanke Ohnmacht und grenzenloser Zorn. Ohnmacht und Zorn angesichts
all dieser westlichen Kriegstreiber in Maßanzügen, für die der Tod
abertausender
(junger)
ukrainischer
Männer und Frauen den Wert einer Zahl oder einer Waffe hat. Durch
die sich am politischen Horizont abzeichnenden, aus dem Trump-Lager
durchsickernden Pläne zur Beendigung des Krieges wirken Forderungen
nach einer Mobilisierung
von faktischen Jugendlichen – und damit nach noch mehr Toten –
noch schriller: in ihrer Kaltblütigkeit, in ihrer Schamlosigkeit, in
ihrer Bodenlosigkeit. Würde Antony Blinken einen Rest von Anstand,
einen Rest von Schamempfinden spüren, würde er bereits jetzt auf
die Linie umschenken, die sich durch den
künftigen Machthaber
im Weißen Haus abzeichnet. Diese
zielt laut
dem,
was wir etwa
von Trumps
designierten Ukraine-Sondergesandten
Keith Kellog vernehmen, auf ein verhandeltes Ende des Krieges ab.
Es wird, wie auch immer es ausgeht, aus Sicht der Ukraine einen
ungerechten Waffenstillstand und ungerechte Gebietsverluste bedeuten.
Aber es bedeutete eben auch: ein Ende der sinnlosen Todesopfer.
Kinder
an die Macht
Front
Blinken könnte, würde er,
und würden die EU-Staatschefs umschwenken, in erster Linie dazu
beitragen, dass in den kommenden Wochen und Monaten zumindest mit
hoher Wahrscheinlichkeit weniger Menschen sterben würden – von der
gebremsten Eskalationsdynamik, die Ziel jeder
verantwortungsvoller Politik sein
müsste, und die sich derzeit,
ganz im Gegenteil, gefährlich
hochschraubt, nicht zu sprechen. Wofür
sollen die neu zu Rekrutierenden sterben – für das Halten von
ukrainischem Land vor dem unvermeidlichen Waffenstillstand? Wie ist
dabei die Rechnung? 1000 neue Soldaten im Alter von 18-25 Jahren ist
gleich 100 Quadratmeter Erde? Der US-Politologe
John Mearsheimer sagt,
dass die scheidende Regierung bewusst einiges dafür tut, Trumps
möglichen ‚Deal’
mit Putin
zu verunmöglichen.
Biden wolle unbedingt vermeiden, dass die Ukraine womöglich noch in
seiner Amtszeit eine Niederlage erleide, was angesichts der Frontlage
eine durchaus realistische Möglichkeit darstelle.
Eine mögliche Niederlage der Ukraine solle später Trump
zugeschrieben werden können. „Die Biden-Regierung unterminiert die
Trump-Regierung, bevor diese ihr Amt antritt“, so Mearsheimer in
einem Interview am 20. November.
Ein
weiter eskalierter Krieg – zuletzt die US-Entscheidung, der Ukraine
den Einsatz amerikanischer ATACMS-Raketen auf russischem Territorium
sowie Anti-Personen-Minen zu erlauben, und als Antwort Moskaus
verstärkte Angriffe und die Aktualisierung der Einsatzdoktrin für
Atomwaffen – könnte tatsächlich eine sog. „gesichtswahrende“
Übereinkunft für den neuen, harten Deal-Macher aus dem Weißen
Haus, und auch mögliche europäische Friedenslösungen, erschweren
oder gar unmöglich machen.
Freilich werden weder Blinken,
noch andere westliche Staatschefs in der EU diesen Schwenk aus
eigenen Stücken vollziehen,
auch wenn einige, wie Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampfmodus,
ihn zumindest andeuten.
Denn
was fehlt, ist
ein
massiver
öffentlicher Druck und Protest. Doch über Blinkens skandalöse
Aussage „18-Jährige an die verlorene Front”, die man offenbar
auch als halb-offizielle Nato-Position
verbuchen kann,
gibt es kaum Kritik. In Nischenmdien, ja, bei engagierten NGOs, bei
einzelnen Persönlichkeiten, in privaten GEsprächen,
auf sozialen Medien. Aber in den großen politischen Parteien
westlicher Staaten? Fehlanzeige.
Bei führenden
„Leitmedien”? Fehlanzeige. In Deutschland wird über Blinkens
Worte kaum berichtet.
Für die
Leitartikler in Deutschland, aber
auch in anderen EU-Staaten,
ist die Forderung,
volljährige Jugendliche
an die Front zu schicken, die
in ihren Staaten millionenfach noch zur Schule gehen oder vor dem
Abitur stehen, offenbar
nicht der Rede wert. Dafür ergehen sich die Medien in den letzten
Tagen über Joe
Bidens
umstrittene Begnadigung seines Sohnes Hunter. Diese
war sicher falsch, zeigt der Vorgang doch den auch in den
„wertebasierten”, rechtsstaatlichen Demokratien üblichen,
schamlosen Missbrauch von Macht. Aber kostet diese Begnadigung auch
nur ein Menschenleben? Wohl kaum. Blinkens Diktum indes würde,
sollte es umgesetzt werden – was es angesichts auch des Widerstands
in der ukrainischen Gesellschaft wohl
nicht mehr wird – genau dies bedeuten.
Auf
den zweiten Blick verwundert die fehlende Kritik kaum. Denn
Menschen & Medien überbetonen lieber politische Skandale und
Verfehlungen oder erinnern an sie vor allem dann, wenn sie möglichst
nicht das vorherrschende Weltbild oder das bestehende (politische)
System infrage stellen, indem sie (wir) selbst stecken und leben.
Denken wir beim Stichwort ‚politischer Skandal‘ an US-Präsident
Richard Nixon, fällt der Mehrheit der Menschen das Thema „Watergate“
ein – jene
verdeckte
Ausspionierung der
oppositionellen Demokratischen Partei, bei der keine Verletzten und
Toten überliefert sind. Und nicht an den von Nixon geführten
Vietnam-Krieg, bei dem 2,3 bis vier Millionen Menschen in Vietnam,
Laos und Kambodscha sowie mehr als 58.000 US-Soldaten ums Leben
kamen,
und bei dem Nixons Außenminister
und
späterer Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger „bis zum
Anschlag eskalieren“ wollte.
Denken wir im gleichen Terminus ‚Skandal’
an Bill Clinton, kommt bei
Vielen
wohl schneller der Name Monika Lewinsky in den Kopf, als etwa die
rund eine halbe Million irakischer Kinder, die alleine bis zum Jahr
1995
aufgrund
von massiven
US-Sanktionen
gegen den Irak starben,
und
von
denen Clintons spätere Außenministerin Madeleine Albright 1996
sagte, diese toten Kinder
seien
„ein
Preis, der es wert ist, bezahlt zu werden”.
Es
bleibt die Frage: wie werden die Menschen einst Joe Biden erinnern –
und seinen Außenminister Antony Blinken?
Ja, es ist
die ukrainische Führung, die entscheidet, wie und wen sie
rekrutiert. Zuletzt gibt es kaum mehr
Freiwillige, in den letzten Monaten erfolgt
die Mobilisierung
meist unter mehr oder weniger offenem
Zwang,
die
Zahl der Deserteure steigt rapide.
Dabei
gäbe es wohl ein bislang noch nicht genutztes,
indirektes Vehikel,
mehr ukrainische Männer,
vor allem ältere, freiwillig
dazu zu bewegen, an die Front zu ziehen. Denn würden sich zumindest
einige namhafte ukrainische Politiker,
die sich für
ein Weiterkämpfen einsetzen – womöglich
auch einige westliche,
die im
Ukraine-Krieg auch einen russischen (Vorbereitungs)Krieg gegen den
Westen sehen -,
ihren politischen Dienst weit
hinter den
Frontlinien quittieren und selbst zur Waffe greifen, dürfte dies
wohl einige ukrainische Männer dazu bewegen, an
die Front zu gehen.
Vor allem jene, die mit sich ringen – ich habe einige getroffen,
die innerlich
zerrissen waren,
ob sie
an die Front sollen
oder nicht. Diese
Männer würden
angesichts
selbst kämpfender Politiker ernsthaft glauben können, vor der
Kriegsgefahr seien alle gleich, und es gäbe in der Zeit
existentieller Bedrohung nicht Gleiche und Gleichere. Doch das wird
nicht geschehen.
Verantwortungslosigkeit,
wie eh und je
Im Ersten Weltkrieg starben
laut Schätzungen 17 Millionen Menschen. Seine Verheerungen, die
Nachkriegspolitik der damaligen Siegermächte, aber auch die
psychosozialen
Verletzungen traumatisierter Überlebender legten die Saat für eine
noch größere Katastrophe – den Zweiten Weltkrieg. Einer der
Brandstifter des Ersten Weltkrieges, der deutsche Kaiser Wilhelm II,
der
bis dato stets und überall in Militäruniform auftrat, musste
zur „Strafe” für die Millionen Todesopfer, die Verkrüppelten,
die psychisch Geschädigten, die Waisen, die er maßgeblich
mitverantwortete – abdanken. Kein Gericht, keine Sühne, keine
Verantwortung;
die Weimarer Republik, die er hasste, überließ ihm viele seiner
Güter und Vermögenswerte.
Die folgenden Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1941 verbrachte er im
niederländischen Exil auf Schloss Amerongen –
Reue für seine todbringende Politik zeigte er bis zuletzt keine.
Wladimir Putin wird für die
von ihm verursachten Verbrechen und die ungezählten Kriegstoten, in
der Ukraine, aber etwa
auch in den
Tschetschenien-Kriegen,
womöglich einst im
Höllenfeuer büßen,
sollte es
dieses geben,
sich aber wahrscheinlich nicht vor
dem
Internationalen Strafgerichtshof
(IStGH) in Den Haag verantworten, wo er eigentlich hingehört.
Gleiches gilt für
viele andere. Etwa
für US-Ex-Präsident
George W. Bush,
der heute über den
verbrecherischen
und
völkerrechtswidrigen Krieg
der
USA gegen den
Irak bei öffentlichen Auftritten Witze machen
und in Anwesenheit und
unter Ehrbekundungen früherer
US-Präsidenten eine Bibliothek eröffnen kann,
die seinen Namen
trägt,
statt vor den Haager Richtern zu stehen,
wohin auch er hingegehört.
Und Antony
Blinken? Er dürfte nach seinem baldigen Ausscheiden aus dem Amt als
angesehener außenpolitischer Experte durch die Welt reisen oder auch
in die vom ihm 2017 mitgegründete Beratungsfirma WestExec Advisors
zurückkehren, die sich darauf spezialisiert, Aufträge des
US-Verteidigungsministeriums an Firmen aus dem Silicon Valley zu
vermitteln.
Nochmals zurück zu Marc
Twain: „Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.”
Ja, sie reimt sich. Und: sie
wiederholt sich. Denn die grundlegenden Strukturen von Macht,
Befehlsgewalt, Gehorsam, Hierarchie, und vor allem des Wertes, den zu
viele Regierende
jenen „einfachen Menschen” beimessen, die stets
am Anfang,
inmitten
und am Ende eines
jeden Krieges sterben
– sie haben sich auch 106 Jahre nach Ende des Ersten
Weltkrieges, der erstmals massenhaft und systematisch Jugendliche in
den sicheren Tod schickte,
nicht wesentlich
geändert –
trotz Demokratisierung und „Fortschritt”. Der
kategorische Imperativ Immanuel Kants, in der Formel „Handle so,
dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person
eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als
Mittel brauchst“ – er hat sicher nicht wenige Menschen zum
Nachdenken gebracht, und viele individuelle Verhaltensweisen geprägt.
Aber nicht jene in der großen, internationalen Politik; nicht jene,
in denen Macht und Interessen über allem stehen. Diese
haben,
was die Frage von Krieg und/oder Frieden angeht,
nur eine andere Form, eine
andere Kolorierung, eine andere Rhetorik angenommen. Und andere,
zivile Kleider.
Epilog
Der Film
„Im Westen nichts Neues“ endet mit einer 40 Sekunden dauernden,
kaum erträglichen, stillen Einblendung des Gesichts des getöteten,
18-jährigen Paul Bäumer. Danach kommt der Schwenk – die Kamera
zeigt weites, hügeliges, bewaldetes Land.
Zynismus
der Werte
Über
ein Bild, das mehr sagt als falsche Worte es je tun können / 11. März 2024
Die
deutsche Außenministerin Annalena Baerbock besuchte Anfang Januar
2024 den von Israel bombardierten Gaza-Streifen. Mit einem Flugzeug
der Bundeswehr angereist, „brachte“ Baerbock zahlreiche Paletten
mit Hilfsgütern nach
Rafah/Al-Arish. Mit ihrem Besuch wollte sie
öffentlich ihre Sorge um die PalästinenserInnen in dieser Todeszone
unterstreichen. Natürlich schlossen
sie und die deutsche Regierung sich
vorher und nachher weder den Kritikern der rücksichtslosen Tötung
von Zivilisten durch die israelische Armee im Rahmen der Vergeltung
für den blutigen Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 an, noch
forderten sie ein
Ende der Bombardierungen. Deutschland enthielt sich Ende 2023 zweimal
bei der Abstimmung über eine UN-Resolution, die eine Einstellung der
Kampfhandlungen forderte. Kurz vor ihrem
Flug nach Rafah bestätigte die deutsche
Ministerin, dass die Bundesregierung ihre bisherige Politik geändert
habe und Saudi-Arabien – ein de facto
diktatorisch von einem König regiertes
Land – mit Flugabwehrwaffen beliefern werde, deren Export in das
Land sie bisher kategorisch abgelehnt hatte. Es geht darum,
Saudi-Arabien noch näher an das westliche Lager und an Israel
heranzuführen. Diese Schritte – Lebensmittel für die
Bombardierten, kein ernsthafter Widerstand gegen die Bombardierung,
Waffen für die Saudis – sind an sich schon ein Zynismus, der die
Grenzen dieses
Begriffs eigentlich schon sprengt.
Was jedoch meine
Aufmerksamkeit erregte, war ein bestimmtes Foto von der Landung
Baerbocks in Rafah, an der Grenze Gazas zu Ägypten. Es ist ein Foto,
das von der deutschen Nachrichtenagentur dpa aufgenommen und u.a. auf
spiegel.de veröffentlicht wurde (siehe:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-am-gazastreifen-an-der-grenze-des-leids-a-65e5a981-83e4-4a04-83d1-36258794160b).
Wir sehen darauf die Ministerin aus dem Heck eines
Airbus-Militärflugzeugs steigen, im Hintergrund sind Paletten mit
Hilfsgütern zu sehen, auf der die deutsche Flagge prankt.
Baerbock tritt mit einem Lächeln aus dem Flugzeug. Das Foto soll
uns sagen: Seht, wie wir uns kümmern, wie
wir helfen, wie wir den Palästinensern humanitäre Hilfe bringen. Es
sagt nicht: Wir machen ein paar Fotos, lassen ein paar Hilfsgüter
hier, fliegen
bald weg, und sie
werden weiter bombardiert, sie werden weiter sterben, ohne dass wir
ernsthaft dagegen protestieren.
Aus journalistischer
Sicht betrachtet: Es ist verwerflich, dass dpa solche Bilder macht.
Und noch verwerflicher, dass der Spiegel es unkritisch
veröffentlicht. Es ist ein PR-Foto. Es
steht sinnbildlich und stellvertretend für mit journalistischen
Umhang getarnte PR. In anderen Staaten nennt man das: Propaganda.
Die
Schriftstellerin
Katharina Döbler schrieb bereits im Jahr
2021 in der Monatszeitschrift „Le monde
Diplomatique“ bedenkenswerte Worte über
unsere „westlichen Werte“: „Es
gibt einen Zynismus der Werte. Nur dass er innerhalb des jeweiligen
Wertesystems keineswegs als zynisch wahrgenommen wird, sondern als
etwas Erhabenes und irgendwie Folgerichtiges.”
(https://monde-diplomatique.de/artikel/!5780386)
(...)
Ich
bin seit 20 Jahren Journalist. Und dabei
immer enttäuschter und wütender, wie zusehends
einseitig und Themen-ausklammernd wichtige („Leit“)Medien
fundamentale Ereignisse
behandeln, und mit welchen offenen und unterschwelligen Positionen. Sei es der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Gaza-Streifen, seien es
westliche Politiken, deren moralisierende, vereinfachende
Schwarz-Weiß-Rhetorik Medien wie der „Spiegel“, die „Welt“,
die „Tagesthemen“ u.a. nicht
kritisch auseinandernehmen, sondern wohlwollend begleiten,
flankieren, mitunter in Szene setzen. Daher an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise (nicht in eigener Sache), zwecks besserem
Überblick, und besserem Verstehen,
andere Medien und Quellen als (nur) die „leitenden“ zu nutzen. Medien, die zumindest
helfen können, den erwähnten Zynismus zu entlarven.
- das
deutschsprachige Portal
der Nichtregierungsorganisation Medico
International
(https://www.medico.de/),
die ein regelmäßiges und lesenswertes
„Rundschreiben“ herausgibt, in dem
Erfahrungen der
Hilfepraxis der
Organisation in Krisengebieten der Welt mit kritischer Analyse
verschmilzt (https://www.medico.de/rundschreiben).
- als englischsprachiges Medium ist das durch Kleinspenden finanzierte,
komplett werbefreie Online-TV-Portal https://www.democracynow.org/
sehr empfehlenswert, darin
die tägliche Nachrichtensendung „The War and Peace Report“
(https://www.democracynow.org/shows/2024/3/11).
- nicht zuletzt, ebenso englischsprachig, die Interviews
des renommierten (Kriegs)Reporters und Autors Chris Hedges, dessen
Sendungen über
das Real News Network zu sehen sind
(https://therealnews.com/chris-hedges-report)
............................................................
Europa realisieren
An dieser Stelle eine Empfehlung an
alle, die die Kontexte des Ukrainekrieges,
die Rolle der EU darin,
vor allem der USA
und Russlands aus einem anderen Perspektive betrachten möchten:
Die
Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot
stellt in ihrem bereits im Okt. 2022 mit
dem Geschichtsphilosophen Hauke
Ritz verfassten Buch „Endspiel Europa.
Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir
wieder davon träumen können“
eindrücklich die Entwicklung der Europäischen
Gemeinschaft/Europäischen Union in den letzten 30 Jahren dar.
Sie zeigen, warum
die EU es nicht vermochte, das in ihr eigentlich
angelegte Projekt einer immer tieferen,
aber auch basisdemokratischeren
Union zu verwirklichen. Aus diesem Scheitern der EU, die lediglich im
Ökonomischen große
Integrationsschritte schaffte (Binnenmarkt,
Euro), erwuchs, so
Guerot und Ritz,
die heute mehr als sichtbare politische Schwäche der EU. Eine
Schwäche mit fatalen Folgen.
Dass
das Buch recht hohe Wellen schlug und
Kritiker den Beiden reihenweise
Anti-Amerikanismus
und Russland-Nähe unterstellten, hängt
damit zusammen, dass Guerot/Ritz in dem langen
Essay einen
kritischen Blick
auf den Ukraine-Krieg
werfen. Warum? (…)
In
den Buch kritisieren Guerot und Ritz die
verhängnisvoll unterwürfige Rolle der EU gegenüber den USA. Sie
schreiben recht deutlich: indirekter und
sich über Jahre aufbauender Auslöser des
Krieges waren die USA, die auf dem eurasischen Kontinent eigene
Interessen verfolgen, die – und dies ist der entscheidende, in den
öffentlichen Debatten nach wie vor strittige Punkt – sich nicht
mit den Interessen der EU decken. Denn es
sind die Staaten
der EU, die auf einem Kontinent gemeinsam mit Russland existieren;
als direkte Nachbarn,
auf Gedeih und Verderb. Das Argument der Autoren: vornehmlichstes
Interesse der Europäer ist und muss es sein, hier
eine stabile Friedensordnung zu schaffen.
Warum dieses Friedensprojekt in den Jahren seit dem Mauerfall 1989
und dem Zusammenbruch der Sowjetunion gescheitert ist – darauf gibt
das Buch eine überzeugende Antwort, indem es die wesentlichen
Entwicklungen bis heute darlegt und interpretiert. Und
warum wird es derart heftig kritisiert? Weil es das Scheitern dieses
Friedensprojektes in erster Linie nicht Russland zuschreibt, sondern
dem schwachen Europa, den eigensinnigen deutschen Regierungen vor
allem seit Gerhard Schröder, und den Machtinteressen der USA. Die
Vereinigten Staaten – darauf weisen nicht nur Guerot/Ritz, sondern
selbst konservative US-Experten wie der Geostratege George Friedman
u.a. - wollen seit jeher verhindern, dass sich ein stärker geeintes
Europa an Russland annähert. Denn das stärkte diese beiden
(potenziellen) Machtblöcke, EU wie
Russland, und schwächte die USA.
Belege
für diese These gibt es zuhauf, auch jenseits des Buches von
Guerot/Ritz. Es ist keine
Verschwörungstheorie, wenn man feststellt, dass ein Vorbringen
solcher Zusammenhänge in den wichtigsten westlichen Medien und von
den wichtigsten Parteien als Russland-Verstehertum diffamiert wird.
Denn:
ja – es gibt sie, jene Selbstzensur der
Medien, der Medienschaffenden und JournalistInnen
in Staaten westliche Russlands und der Ukraine. Als
Journalist spüre ich selbst immer wieder, mich gegen diese
Selbstzensur innerlich und äußerlich zur Wehr setzen zu müssen.
Und ich sehe diese Selbstzensur des Denkens
auch bei KollegInnen. Diese Selbstzensur
rührt aus der
Sorge, aus einem scheinbar legitimen
Erzählrahmen hinauszufallen, und den
Kontakt und konkret: ggf. Arbeit
und Aufträge zu verlieren, wenn man es mit der Selbstkritik, der
Kritik am eigenen (westlichen)
Lager also, übertreibt. Denn immerhin gibt es in der Nachbarschaft
Krieg, mit verheerenden Opferzahlen, und der Aggressor ist doch
scheinbar ganz
klar, ebenso wie das Datum oder die Daten
des Kriegsbeginns, 2022 bzw. 2014, mit der Besetzung der Krim und des
Donbas. Doch der
Krieg Russlands gegen die Ukraine hat seine Wurzeln weitaus früher,
und vor allem: er hat seine Wurzeln nicht nur in Russland.
Selbstzensur
eben (…)
Guerots/Ritzs
Schrift ist nicht
das erste ernsthafte Buch, das die Erzählung vom klaren
Freund-Feind, Richtig-Falsch-Schema des
Ukraine-Krieges durchbricht. Ulrike
Guerot ist eine leidenschaftliche Verfechterin einer künftigen
Europa-Republik, als versierte Politikwissenschaftlerin, die um die
tragische europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts weiß,
plädiert sie für
eine fundamentale
und stabile Friedensordnung auf unserem
eurasischen Doppelkontinent. Damit aber ein starkes (und friedliches)
Europa entstehen und gedeihen und eine haltbare Friedensordnung
etabliert werden kann, ja: auch künftig mit Russland – dafür muss
sich die EU aus ihrer unterwürfigen Rolle gegenüber der Großmacht
USA lösen. Wie sie dies tun kann, und wie
die EU zu einer neuen Stärke kommen könnte, und dabei ihre Defizite
– das Demokratie-Problem Brüssels, die Stärkung der Regionen, das
antikapitalistische Moment – beheben könnte, damit schließt das
Buch, in einem hoffnungsvollen Kapitel.
Auch
wenn ich nicht mit allen einzelnen Aspekten der Autoren übereinstimme
und einzelne Formulierungen mitunter zu
stark vom Gefühl getragen sind – ich
kann das Buch nur dringend empfehlen.
Aber
Vorsicht: es könnte das eigene Weltbild ins Wanken bringen. Und
darin genau liegt das Problem (…).
..............
Neue
und alte KI
Künstliche
Intelligenz neben/gegen Kultur-Intelligenz? / 8. Mai 2023
Es ist die neue, aufrüttelnde
Neuheit der letzten Zeit: neue Programme
der Künstlichen Intelligenz (KI) erobern
die Welt. Sie bringen die Verheißungen von Veränderung,
Fortschritt, Effizienzsteigerungen, der
Erschließung noch unerforschter
Dimensionen. Aber auch: die Sorge vor der Vernichtung von Millionen
von Arbeitsplätzen und ganzen Berufen, die Gefahr einer neuen
Dimension von Manipulation, von Fake News 2.0., von nie
gekannter Verdrängung und Reduzierung des Menschen. Und all
dies und mehr ist tatsächlich zu erwarten. Und zu fürchten.
Indes, die Künstliche Intelligenz
(KI) wird dann gefährlich für die Gesellschaft als Ganze, wenn wir
als Menschen auf und in Bereiche reduziert werden und uns reduzieren
lassen, in denen das im weitesten Sinne Technologische dominiert. Das
betrifft die Produktion von allen möglichen Dingen und die
Konsumption von Erzeugnissen und Dienstleistungen, die aus sich
heraus aber keinen Mehrwert generieren, der über den Bereich, in dem
er stattfindet, hinaus strahlen – und nicht ein anderes Wachstum
stimulieren würde. Dieses andere Wachstum, das eine der Lösungen
auf die Frage der KI ist, ist das Wachstum des Innern des Menschen
und das Wachstum der interpersonellen Tiefe, sprich: der Beziehungen
zwischen den Menschen, ob in Form von Freundschaften oder auch
weiteren gesellschaftlichen Kreisen, die auf mehr Vertrauen und
Augenhöhe basieren, und nicht auf Kontrolle und Hierarchie.
Die Künstliche Intelligenz kann uns
durchaus Aufgaben abnehmen, die wir durchaus an sie delegieren
könnten. Ebenso, wie vor rund 70 Jahren das Waschen der Wäsche in
den sich industrialisierenden Gesellschaften nach und nach an die
Waschmaschine ausgelagert wurde. Um diese neuen Auslagerungen von
Aufgaben aber menschenverträglich zu machen, müsste die KI eine
entscheidende Bedingung erfüllen: sie müsste möglichst
basisdemokratisch sein, wenn es um gemeinschaftliche Dinge geht, und
allgemein verfügbar sein, wenn es um die persönliche Nutzung geht.
Dass beides geschehen und gelingen kann, scheint derzeit zwar
unwahrscheinlich. Doch unmöglich ist dies nicht. Wahrscheinlich ist
ein Co-Existieren, ein Nebeneinander von
frei verfügbarer KI, die im Sinne des Gemeinwohls wirken kann, mit
jener, die kommerziell, medial und politisch genutzt (und
missbraucht) werden wird. Durchaus möglich und wahrscheinlich, dass
beides miteinander konkurrieren wird. In anderen Bereichen gibt es
dieses Nebeneinander, diese Konkurrenz schon heute. Schon heute
konkurrieren etwa Medien kleiner Verlage, solche, die auf dem
genossenschaftlichen Gedanken basieren oder ausschließlich von
Nutzerinnen finanziert werden, mit Medien großer kapitalistischer
Konzerne (mit derzeit klaren Vorteilen für zweitere); schon heute
gibt es frei zugängliche Computerprogramme neben jenen der
kommerziellen Konkurrenz (etwa peertube gegenüber youtube); schon
heute existiert das verträglichere Fair Trade neben den
ausbeuterischsten Formen der Produktion.
Bei den und weiteren Beispielen,
könnte man einwerfen, hat das am Gemeinwohl ausgerichtete, nicht am
Gewinn orientierte das Nachsehen, also wird dies wahrscheinlich auch
für die KI greifen. Doch das muss nicht so sein und werden.
Denn der Mensch hat einen
entscheidenden Vorteil gegenüber jedem Computersystem: er lebt. Und
dieses Leben ist in seiner Ausrichtung und seinen Wege-Zielen
unbestimmt, es ist nicht vorherbestimmt – zumindest ist dies im
Menschen als Möglichkeit angelegt. Auch hier zeigt uns die Realität
zwar: das wird mitnichten so verwirklicht. Schaut man sich etwa die
Abermillionen Menschen (unter uns)
an, die tagtäglich für den notwendigen Broterwerb in starren
Strukturen im wahrsten Sinne des Wortes ‚funktionieren‘, könnte
man die Hoffnung verlieren. Doch der Mensch hat die einzigartige
Fähigkeit zu sagen: ja, und nein. Er und sie kann sich darauf
besinnen, vor allem dann, wenn er (noch) in dazu geeigneten
Bedingungen lebt, sich von gängigen und gängelnden Systemen
zumindest teilweise abzukoppeln und Alternativen zu entwickeln. Er
und sie kann sagen: ich nehme an etwas nicht teil. Vielleicht hilft
ein Gedankenspiel: für alle, die sich darüber wundern, dass etwa
bestimmte Sportler horrende Summen verdienen, hier die schlichte
Wahrheit: würde von einem Tag auf den nächsten niemand mehr
zuschauen, würden die Fortunes der Messis und Ronaldos dieser Welt
prompt beginnen zu schrumpfen, zumindest nicht mehr wachsen.
Ähnliches gilt, noch weit mehr, für politische und ökonomische
Spiele von Eliten, deren Macht, Einfluss und auch Reichtum damit
zusammenhängen, dass wir mitmachen, zuschauen, folgen. Klar ist es
Utopie, was John Lennon einst sagte: stelle Dir vor, es ist Krieg –
und niemand geht hin. Doch als Gedankenspiel kann dieser Ansatz
nützlich sein: es kann dem Individuum helfen, in kritischen
Situationen nein sagen zu können. Und es kann einem anderen helfen,
sich von diesem Ersten inspirieren zu lassen. Da wären wir schon
zwei – und das ist jedenfalls ein Anfang.
Wenn wir uns nun auf die KI als das
neue Werkzeug der Stunde und Zukunft konzentrieren, ihm zu viel Zeit,
Konzentration, Gedanken und Mühen schenken, vernachlässigen wir
womöglich die andere KI – unsere Kultur-Intelligenz. Sie steckt in
uns, in jedem Einzelnen, frei nach dem Künstler Joseph Beuys:
jede(r) ist KulturmacherIn, auch und vor allem auch – ohne
künstliche Zusätze. Unsere Kultur-Intelligenz speist sich seit
jeher aus unseren Innenwelten, die merk- und denkwürdige Beziehungen
und Fäden spinnen zu dem/der Anderen, dessen und deren Antlitz die
eigentliche Energie- und Lebensquelle ist; dazu noch recht
ökologisch, ohne Verbrauch fossiler Rohstoffe.
Nein, unser Problem mit der KI ist
und wird nicht die nicht zu verleugnende und ausbreitende Existenz
dieser Künstlichen Intelligenz sein. Unser Problem ist eines des
Fokus’: „Worauf Du dich konzentrierst,
das wächst”, sagt ein altes
buddhistisches Sprichwort. Wenn wir tief, lang und offen auf den
Menschen in uns und in dem/der Anderen blicken, wenn wir darauf
fokussieren und darauf vertrauen, dass diese beiden Quellen tiefer,
wahrer, lebendiger, erstrebenswerter sind denn das Technologische,
dann haben wir, wenn es um die künftigen Sprünge der neuen KI geht,
vielleicht nicht nichts zu fürchten. Aber deutlich weniger und
anders, als wir denken.
Die KI ist
angesichts der Unermesslichkeit des Menschen, seines unermesslichen
und unvorherbestimmten Potenzials, ein kleiner Wurm – ohne
den Würmern zu nahe treten zu wollen. Denn
auch sie sind in ihrer unbegreiflichen Grazilität und Schönheit um
Welten näher an der ungreifbaren Wahrheit, als es eine jede KI des
Jetzt und Morgen sein wird.
...............................................................................................
Die
transformierende Energie
Musik
ist Geheimnis, Ausdruck der Unendlichkeit des Seienden, ungreifbar
zeitlose Nicht-Materie – und kosmischer Spiegel des inneren Geistes
des Menschen. Selbst in schlichten Formen - Musik birgt
transformatives Potenzial.
Von Jan Opielka
Es
ist wohl 28 Jahre her, da ich dieses
seltsam-schöne Stück erstmals im Radio hörte.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was es genau war, das mich damals
an dem sich allmählich entfächernden englischen Lied so fesselte.
Der dramatische Aufbau von Vorspiel, Strophe und Refrain, die ohne
Brüche ineinander über floßen? Das seltsame Motiv im Hintergrund,
gespielt auf einem panflötenähnlichen Instrument? Oder diese
eindringliche Stimme der Sängerin, die von einem schmerzhaften
Gefühl zu berichten schien? Wie auch immer: der Song betörte mich,
er schien mir eine geheime Tür zu einem Geheimnis aufzustoßen, das
mein Verstand nicht fasste. Der Song spielte schmerzhaft-schön an
einer bislang nicht gekannten Saite in mir. Als er auszuklingen
begann, stellte ich das Radio noch lauter, um zu erfahren, wer und
was mich soeben für eine fünfminütige Ewigkeit in eine unerhört
andere Welt versetzt hatte. Doch niemand sagte etwas. Ich fiel von
einem nächtlich vibrierenden Stern in den dumpfen Missklang der
Erde. Ich war berauscht und enttäuscht, und ich wäre es noch mehr
gewesen, hätte ich gewusst, dass es acht Jahre dauern würde, bis
ich den Song wiederhören würde. Erneut unerkannt.
Was
ist Musik?
Was
ist Musik in ihrem Kern? Existiert Musik überhaupt wie andere Dinge
existieren, wo ihr Klingen doch immer nur im Moment vernehmbar ist?
Und wenn sie 'existiert' – warum sind ihrer so viele? „Man
kann über Musik sprechen, sie selbst aber kann man nicht
aussprechen“, schreibt der Komponist und Musikwissenschaftler
Philippe Manoury. Was aber ist ein 'etwas', das man „nicht
aussprechen“ kann? Was auch immer es ist – dieses
Unaussprechliche ist für mich, und wohl nicht nur mich, in
entscheidenden Momenten Rettung gewesen – vielleicht vor dem
Schlimmsten. Musik war mir oftmals jenes weitgespannte Netz, in das
man fällt, wenn es gefühlt nicht tiefer geht. Weil sie es war, es
sein konnte, muss sie doch etwas in sich tragen, etwas sein, das weit
über das rational Fassbare, das Unterhaltende hinausgeht. Vielleicht
ist – um ein Zitat John Lennons zu paraphrasieren – Musik
dasjenige, „was passiert, während du
damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen“?
Das
Geheimnis der Musik, so denke ich heute, liegt in den weiten Sphären
des uns umgebenden und uns zugleich öffnenden Kosmos' verborgen.
„Music of the spheres“, die Musik der Sphären, so hat der
britische Schriftsteller Jamie James eines seiner Bücher betitelt,
in dem er die Entwicklung der Musik der 'westlichen' Hemisphäre
innerhalb der letzten 2500 Jahre nachzeichnet. Einst, schreibt James,
galt die Existenz von Musik und von Klang als gleichbedeutend mit der
Existenz des Göttlichen, des universell Letztgültigen, und ja, der
Perfektion in der Welt. Musik war, angefangen bei der mythenhaften
Figur des Pythagoras – griechischer Philosoph und Gründer einer
religiös-philosophischen Bewegung – nicht nur Ausdruck von
etwas. Sie war das Sein als solches; das 'Große Thema', wie James
schreibt. Dieses Große Thema ist
der „Glaube, dass der Kosmos ein erhaben harmonierendes System ist,
von einer Höchsten Intelligenz geleitet, und dass der Mensch darin
einen vorbestimmten und ewigen Platz einnimmt“.
Um zu verdeutlichen, was
damit gemeint sei, stellt James einen Vergleich zwischen der Sprache
und der Musik auf: „Wenn wir das Allegro einer Mozart-Symphonie
hören und die Performace lebendig und innig ist, kreiert es in uns
in der Tat die Empfindung von Freude. Es ist wahr, dass Musik eine
Form der symbolischen Sprache ist, es ist jedoch eine komplett andere
Art als der Symbolismus der Sprache.“ Denn eine wortlose
Mozart-Symphonie „schöpft Freude, anstatt dass sie uns über
die Freude erzählt. Die Musik ist der Bereich der Freude. Wie
ist dies möglich? Die Griechen kannten die Antwort: Musik und die
menschliche Seele sind beides Aspekte des Ewigen.“ Daher auch, so
James, können Menschen etwa nach einem Konzertbesuch von „erhabenen
und transzendenten Erfahrungen“ sprechen. Und auch wenn diese
Beschreibungen heutzutage mitunter wie leere Worthülsen geäußert
würden, erwüchsen sie in ihrem authentischen Kern dennoch „aus
einem tief gelagerten menschlichen Bedürfnis, eine Verbindung zum
Absoluten zu fühlen, die phänomenale Welt zu transzendieren“.
Musik
ist in dieser Perspektive also Ausdruck des Göttlichen im Sein, ein
akustisch in Zeit und Raum existierendes, und zugleich nicht
greifbares Abbild der nur ahnbaren Perfektion des Kosmos. Mit
wissenschaftlichen Mitteln ist diese Dimension der Musik nur insofern
fassbar, inwiefern die Wissenschaft ein Kriterium als Realität
akzeptieren kann, das sie bislang als Phantasma, als Hirngespinst
verwirft: die Realität der mystischen Erfahrung. „Horch,
hör' das Wehklagen des Seemanns / Rieche das Meer, fühle den Himmel
/ Lass deine Seele, deinen Geist fliegen / Hinein in die Mystik“,
singt der nordirische Musiker Van Morrison.
Doch
selbst wenn wir das Ewige in der Musik zu erkennen glauben, so hat
der sie konstituierende
Klang als solcher „keinen Bestand in dieser Welt – er
verflüchtigt sich zur Stille“, schreibt der Pianist und Dirigent
Daniel Barenboim, Gründer und Leiter des israelisch-arabischen
Orchesters West-Eastern Divan. Und weil „jeder vom Menschen
hervorgebrachte Ton etwas Menschliches an sich hat, teilt sich einem
beim Verstummen eines jeden Tons eine Ahnung vom Tod mit.“ Der Tod
jedoch nicht als Ende, sondern, so könnte man sagen, als ultimativer
Grenzbereich, als Transitzone, von der Musik akustisch vernehmbar
gemacht – in ihrem Ausklang, und auch in ihrem Beginn. Barenboim:
„Der Apostel Johannes sagt: 'Am Anfang war das Wort'. Goethes Faust
sagt: 'Am Anfang war die Tat.' Vielleicht könnte man aber auch
sagen: 'Am Anfang war der Klang'“.
Musik
indes, schreibt Philippe Manoury unbiblisch, ist „eine organisierte
Form des Klanglichen“, sie bilde Formen, die sich „vom Chaos
abheben und schließlich einen Sinn erhalten“. Bestimmte Klänge,
sagt Manoury, sind indes „mit Geschichten aufgeladen; die
Geschichten sind in gewisser Weise Erzählungen von ihrer Geburt. Die
Klänge besitzen jedoch auch ein geheimes, verborgenes Leben, eine
innere Natur.“ Diese 'innere Natur' der Klänge ist es, die die
einen als physikalisch klar zu definierende Größe sehen, andere
wiederum in ihr das Abbild der Welt zu erkennen glauben – als
klangvolle Partikel der Schöpfung, oder, wie Pythagoras es sah, als
„menschliche Musik“, die in jedem Körper in Verbindung mit der
menschlichen Seele resoniere. Er und seinesgleichen hielten auch die
„musica mundana“, die „Sphärenmusik“ für unumstößliche
Realität – eine Musik, die der Kosmos und die Planeten für den
Menschen nicht hörbar erzeugen.
Die
Sphären der modernen Musik
Jenseits
dieser spirituellen Sicht verweist James vor allem auf eine
Geschichte, die auch für die heutige Musik in ihrer Gänze von
Bedeutung wurde – von der Volksmusik über Pop bis zur Klassik.
Laut der Legende „Pythagoras in der Schmiede“ habe dieser durch
zufälliges Hören von Hämmern, die unterschiedliche, aber
harmonierende Töne von sich gaben, die Intervalle entdeckt.
Intervalle sind von immenser Bedeutung in der Musik, sie markieren
den Höhenabstand zwischen
zwei gleichzeitig oder nacheinander klingenden Tönen.
Der weise Grieche legte in der Tat den Grundstein für die westliche
Musik: die arithmetische Gesetzmäßigeit der Intervalle, bei denen
die Quinte (Dominante) und die Quarte (Subdominante) als besonders
harmonierend herausstechen. „Pythagoras entdeckte, dass die
musikalischen Intervalle, die von den Hämmern erzeugt wurden, exakt
equivalent zu den Verhältnissen zwischen den Hammer-Gewichten
waren“, schreibt James. Fortan sahen die Pythagoreer „zwischen
Zahlen, der Musik und dem Kosmos nicht bloße Übereinstimmungen –
sie setzten sie gleich. Musik war Zahl, und der Kosmos war Musik.“
Doch
nicht die Zahl, erst der Ton macht die Musik. Musikalische Töne
schaffen durch ihre unterschiedliche Farbe, Intensität, Dauer und
ihre Höhe eine Differenz, sie bringen gewissermaßen Ordnung in das
kosmische Chaos. „Um Expressivität, eine Absicht oder gar ein
Gefühl zu übermitteln, sind wir auf Tonhöhen angewiesen“,
schreibt Manoury. „Der Sinn der Wörter bedarf nur des Geräuschs,
um sich zu verbreiten; die Tonhöhen, die ihm eine Orientierung
verleihen, können als Melodie gehört werden.“ Diese Tonhöhen,
als Vielheit gleichzeitig oder nacheinander hörbar gemacht, werden
so zu verdichteten Geschichten. Die Geschichten sind also den Tönen
eingeschrieben – oder umgekehrt: den Geschichten sind Töne
eingeschrieben. Eine Ahnung davon erhalten wir bereits, wenn wir ein
Gedicht rezitieren: auf natürliche Weise variieren wir die Tonhöhe,
in der Regel entsprechend dem Inhalt des Geschriebenen. Beim
Schreiben meiner eigenen Musik habe ich, überaus schmerzhaft wie
erhebend, ebenfalls erfahren, dass jeder wahrgenommenen Realität und
jedem Empfinden ein Klang, eine Melodie, ein ganzes Stück
innezuwohnen scheint. Dieses Empfinden indes kann vom Menschen
lediglich zum Klingen gebracht werden – in diesem Sinne kann man
Musik nicht aus dem Nichts ausdenken. Jedenfalls keine authentische.
„Musik
erzählt, wenn sie sich einer außermusikalischen Motivation
verdankt, die in ein musikalisches Motiv verwandelt werden konnte“,
schreibt der Komponist und Dramaturg Moritz Gagern.
Solche
musikalischen Erzählungen sind auch in großen Teilen Grundlage der
Populärmusik. Die Erzählung kann banal oder überzuckert-pathetisch
sein – aber auch poetisch feinfühlig, mehrdeutig, engagiert,
authentisch. Sie kann mit 'offenem Visier' daherkommen, fremde Werke
und die Realität zitieren, die Intensität von Wort und Klang
variieren. Letzteres gilt etwa für die meisten Stücke und ganze
Alben Herbert Grönemeyers. Da wäre etwa sein „Stück vom Himmel“:
„Warum in seinem Namen / Wir heißen selber auch / Wann stehen wir
für unsere Dramen / Er wird viel zu oft gebraucht / … Ein Stück
vom Himmel / Der Platz von Gott / Es gibt Milliarden Farben / Und
jede ist ein eigenes Rot … / Dies ist mein Haus / Dies ist mein
Ziel / Wer nichts beweist / Der beweist schon verdammt viel.“ Wer
diese und weitere Zeilen hört und dabei das 'dritte Ohr' – jenes,
das fähig ist, die Unendlichkeit zu vernehmen – spitzt, kommt kaum
umhin, in ihnen eine Erhabenheit, eine verdichtete, ungreifbare
Realität zu entdecken. „Etwas anderes als die Musik muß der Musik
vorschweben, um eine musikalische Novelle, ein unerhörtes Ereignis
zu werden“, schreibt Gagern. Ich komme nicht umhin, Stücke wie das
eben zitierte, oder auch Lieder wie den „Weltenbrand“ von
Konstantin Wecker als „unerhörte Ereignisse“ zu sehen. „Dem
Ganzen entzweit, doch ganz / Auf dich gestellt / Bleibt nur dein
brüchiger Tanz / Auf den Wogen der Welt / Und du erinnerst den Ton /
Den großen Gesang / Dem vor Urzeiten schon / Dein Wesen entsprang.”
Die
Authentizität und Tiefe solcher Musik
erleben die Menschen in den letzten Jahrzehnten zunehmend in
konzentrierter Form, auch auf mehrtägigen
Festivals. Und deren wachsende Zahl geht
nicht zufällig mit dem Rückgang religiös-kirchlicher
Praktiken einher. Konzerte und Festivals werden von vielen, vor
allem jungen Menschen, (oftmals unbewusst) als religiöse
Erlebnisse wahrgenommen, wobei sie im
besten Fall nicht in der Masse
verschwimmen, sondern mit anderen Teilnehmenden
ein Einheitserlebnis erfahren, das den in grauen Vorzeiten der
Zivilisation ekstatisch erlebten Gemeinschaftsritualen entspricht.
„Sowohl Musik als auch
Religion sind letztendlich dafür da, dem endlichen Wesen dabei zu
helfen, unendlich zu werden”, schreibt
Daniel Barenboim. Daher wird auch die Musik aufs Podest gehoben, wenn
es darum geht, für den Frieden zu werben – wie etwa der Verein
„Music for peace“ es tut. Ende 2020 will ein Vereinsensemble im
islamischen Iran ganz und gar christliche Musik spielen: „Durch
Musik, durch das Singen mit Freude wird der Gedanke eines friedlichen
Miteinanders vermittelt”, sagt Maarten van Leer. „Wir singen die
h-Moll-Messe von Bach. (...) Es ist eigentlich eine jauchzende Musik,
die den Text der christlichen Messe benutzt, aber eine universale
Aussage hat, über die Grenzen des christlichen Dogmas hinaus. Es
wird etwas zutiefst Menschliches berührt.”
Hallelujah!
Zutiefst
berührende Empfindungen müssen dabei nicht zwingend auf der
Komplexität von klassischer oder barocker Musik beruhen.
Musikalische Belege dafür gibt es etliche. Sie kennen sicherlich den
Song „Hallelujah“ von Leonard Cohen? - Denjenigen, die ihn nicht
kennen, kann ich ihn nur ans Herz legen. Es ist ein Song jenseits von
Gut und Böse; von dieser Welt, und von woanders. Schon die
Geschichte dieses 1984 erstmals veröffentlichten Liedes spricht für
sich. 80
Strophen schrieb
der im Jahr 2016 verstorbene Cohen, bevor er das Stück zum Abschluss
brachte, das er dann aber im Laufe der Jahre immer wieder neu
variierte. Cohen verzweifelte beinahe an dem Stück, er hämmerte mit
seinem Kopf gegen den Boden, als er daran schrieb. „Diesen Song,
diesen dringenden Song zu finden, kostete mich eine Menge Arbeit und
eine Menge Schweiß.“
Doch
was er „fand“, war und ist „unerhört“. „Hallelujah“ ist
eine Symbiose zwischen bildgewaltiger Poesie, an biblischen
Erzählungen orientiert, und ihrer musikalisch nur augenscheinlich
schlichten Umsetzung. Denn die Schlichtheit des im 'einfachen' und
grundlegenden C-Dur gefassten Songs ist nur vordergründig. Dies
macht Cohen gleich mit der ersten Zeile deutlich, die direkt an die
Entdeckung der Intervalle, der Quinte und der Quarte, durch
Pythagoras anschließt. „I have heard there was a secret chord /
that David played / and it pleased the Lord / but you don't really
care for music, do ya?“ (Hab gehört, es gab diesen geheimen Akkord
/ den David spielte und
der dem Herrn gefiel / Doch dir ist Musik egal, oder?”)
Wenn uns die
verborgene Tiefe der Musik einmal nicht egal ist, können wir das
Geheimnis dessen entdecken, warum Cohens „Hallelujah“ – nach
1984 blieb der Song unbemerkt, erst die etlichen Coverversionen seit
den 1990ern erhoben ihn zur Hymne – fortbestehen wird. Das
Geheimnis? „It goes like this: / the fourth, the fifth / the minor
fall and the mayor lift / the baffled king composing Hallelujah!“ –
„Er geht so / den
vierten, fünften
/ Moll nach unten, Dur nach oben / Der perplexe König
komponiert: Hallelujah.”
Ich
unterstelle Leonard Cohen keinen Narzissmus, doch mir scheint klar:
er selbst ist der König im Stück, und als sein alter ego David nach
jahrelangen Mühen das Geheimnis der Quarte und der Quinte entdeckte,
da konnte er nicht anders: er musste das Geheimnis in Worte packen,
die die gespielten Intervalle eins zu eins beschreiben, und
anschließend kulminierend jauchzen: „Hallelujah!“ Die folgenden
Verse sind wundervolle, bildhafte, pathetische und ironiesierende
Paraphrasen seiner Geheimnisentdeckung. Sein Song ist einer jener
wenigen, die nicht nur zu Evergreens, sondern zu 'ewigen Liedern'
werden – er ist pure Schönheit, geht tiefer als so manches
klassische Werk. Denn um Zeilen wie die Hallelujah-Verse
ans
Tageslicht hieven und sie in
die ihnen eingeschriebene Musik betten zu können, braucht es wohl
keinen musikalisch-virtuosen Genius. Sondern einen Menschen, der sich
seiner Selbst und der Zerbrechlichkeit („the cold and broken
Hallelujah“) ebenso bewusst ist wie Verbundenheit mit jenem Etwas
oder Einem. „There's a crack, a crack in everything – that's
where the light comes in“, singt er an anderer Stelle – „In
allem ist ein Bruch / Von dort dringt das Licht herein“. Cohen
erlebte viele Brüche, er sah viel Licht – doch seine Songs sind
nicht Spiegel seiner Erlebnisse, sie werfen auch kein Licht auf sie.
Die Songs selbst sind das Licht. „Es ist die Vertrautheit mit dem
Fehlerhaften“, sagte er, „durch die wir unsere wahre
Menschlichkeit, unsere wahre Verbindung zur göttlichen Inspiration
erkennen.“
Das
Geheimnis des Schlagers
Durch
die Intervall-Entdeckung des Pythagoras und ihre
meisterhaft-mystische Umsetzung etwa durch Cohen können wir auch
nachvollziehen, warum nicht nur der Blues in seinem 12-taktigen
Grundschema mit der Prime, der Quarte und Quinte operiert, sondern
dies auch die meisten Schlagersongs etwa einer Helene Fischer, die
auf Millionen Menschen eine Sogwirkung entfalten. Allein diese drei
Intervalle, die ihnen entsprechenden Akkorde C, F, G (auch in andere
Tonarten transponiert) und die über sie gelegten Melodien reichen,
um schier unendlich viele Varianten der kosmischen Harmonien auch in
schlichte Formen zu packen und die Herzen der Menschen in Schwingung
zu versetzen. Denke ich die volkstümliche Musik, erklingt in meinem
Kopf als erstes stets „Glückwunsch an die Braut“ der
Zillerthaler Schürzenjäger – herzzereißend ist es, bitter-süß,
melodramatisch, wenn auch überzuckert. „Ich wünsch dir Glück in
deinem Leben / und einen Keller voller Wein / mögt ihr ihn stets mit
Freude trinken / nur ladet mich halt auch mal ein.“ Erhaben sind
diese Zeilen nicht, womöglich allzu naiv-eindeutig – aber
authentisch, aus dem Leben vieler Menschen heraus sprechend, das sind
sie allemal. Die Komposition kommt, wie könnte es anders sein, mit
den drei genannten Grundakkorden aus, wenn sie auch in das etwas
anders schwingende E-Dur gesetzt sind. Das gleiche Stück der
Zillerthaler ließe sich im Übrigen auch als vibrierender Rocksong
darbieten, und selbst ein klassisches, 'anspruchsvolles' Arrangement
wäre möglich. Wir würden staunen, was da herauskäme. „Die
zwölf Noten jeder Oktave”, sagte der Komponist Igor Stravinsky,
„eröffnen uns Möglichkeiten, die der menschliche Geist niemals
ausschöpfen wird.”
Unendlich
Ich
muss wohl 27 Jahre alt gewesen sein, als ich endlich entdeckte, wie
jener mystische Song aus der grauen Vorzeit meiner Pubertät hieß,
und wer ihn schrieb. Es war ein Spätwerk aus dem Jahr 1982 und hieß:
„The day before you came.“ Und die Band? Damit Sie als LeserIn
auch ein wenig rätseln: die ersten beiden Buchstaben des Alphabets,
jeweils mal zwei. Den Song könnte ich heute, Youtube und Spotify sei
Dank, jederzeit hören – doch ich tue es nicht. Nur einmal alle
paar Jahre, das reicht. Dann entfächert sich jeweils ein neues,
kleines Geheimnis darin. Aktuell jenes: das Stück hat gar keinen
Refrain, seine Dramaturgie fußt vielmehr auf der sich entfächernden
Erzählung dessen, was einer Frau an jenem Tag wiederfuhr, bevor die
Liebe zu ihr kam – sie erzählt es minutiös in Uhrzeiten, in
Zahlen also. Da hätten wir wieder unseren Pythagoras.
Alle
unter uns, die einen Zug zum Musikalischen oder zur musikalischen
Schöpfung verspüren, aber glauben, dafür seien sie, warum auch
immer, nicht geeignet, sollten den Gedanken des Komponisten Philippe
Manoury in ihr Herz schließen. „Musik entsteht da, wo man bereit
ist, sie zu empfangen.“ Jede menschliche Seele, eingetaucht in der
Unendlichkeit des Kosmos, bietet dafür genügend Raum. Und Zeit.
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Juni 2019
erschienen in: Kritik und Aufklärung / Christ in der Gegenwart
Langweile
Dich
Was
wir tun, wenn wir uns langweilend öffnen – und warum die heute
negativ eingetrübte Langeweile in ihrem Kern schöpferisches
Potenzial birgt. Von Jan
Opielka
Der
Stillstand
Es sind noch etwa 80
Kilometer bis Berlin, als der Zug an einem verregnetem Freitag
plötzlich und mit Vehemenz mitten im Feld zum Stehen kommt. Ein Teil
der Passagiere in dem halbleeren Großraum-Waggon hebt den Blick von
ihren Smartphones, Zeitschriften und Büchern. Kaum jemand hatte
zuvor mit seinen Sitznachbarn gesprochen, bis auf eine junge Mutter,
die sich mit ihrer zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alten Tochter
angeregt über deren gestrigen Sozialkunde-Unterricht austauschte.
Auch in den ersten, lang gezogenen Minuten des Zugsstillstands, die
im schalldichten Waggon eine wie aus der getakteten Zeit anmutende
Atmosphäre des 'Was nun?' ausbreiten, redet niemand. Wenig später,
kurz nachdem in den hinteren Reihen die ersten Beschwerden über
„Gefängnisfenster“ zu hören sind, erklingt im Lautsprecher die
Stimme des Zugbegleiters. „Aufgrund eines Personenschadens können
wir unsere Fahrt auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen.“ Er sagt
noch ein paar andere Worte, doch sie gehen in den sich nun allmählich
erhebenden Stimmen der Passagiere unter. „Jetzt wird es öde und
langweilig“, sagt ein älterer Mann, der sich später als Gottlieb
Kowalski vorstellen wird, zu einer weitaus jüngeren Frau gegenüber,
die bislang in ihr Buch vertieft war. „Da haben wir, anders als
dieser Selige, ja mal ein Luxusleiden. Oder was meinen Sie?“
„Luxusleiden“
Langeweile?
Sich zu Tode
langweilen, sterbenslangweilig, die Langeweile vertreiben –
allenthalben wird in unserer heutigen, postmodernen Zeit die
Langeweile negativ konnotiert. Sie ist in unserer rationalistisch und
zeitlich minutiös getakteten Welt ein Störfaktor, der das angeblich
Wesentliche, das den Vorgaben von Markt, Wachstum und Zeit
unterliegen soll, für eine unbestimmte Zeit illegitim zum Erliegen
kommen lässt. Denn die Zeit – genauer: die alle Lebensbereiche
durchdringende Zeitmessung – ist längst zum „Regime über das
Ereignis“ geworden, wie der Essayist und Lyriker Volker Demuth
schreibt. Bei dem so entstehenden „linearisierten Bewusstsein“
stehe „das aufgezählte Leben dem erzähltem Leben gegenüber, wie
die gerade Linie dem Augenblick, von dem an manches oder alles eine
andere Wendung nimmt“, so Demuth. Wie die oben beschriebene
Zugfahrt, die durch ein tragisches Ereignis einen Einschnitt, eine
Wendung markiert, natürlich für das Opfer und seine Nächste –
aber womöglich auch für die aus der Zeittaktung gefallenen
Passagiere. Sie werden in eine zuvor nicht geplante, unbestimmt lange
Weile geworfen.
In der Tat entfächert
erst die etymologische Zusammensetzung dieses im Deutschen
wunderbaren Begriffs den versteckten Sinn, den verborgenen Kern des
Zustands, oder vielmehr des Prozesses, der Langeweile. Denn die lange
Weile ist zunächst einmal das, was die beiden sie bildenden
Einzelworte beschreiben; eine Weile, die eben lang ist. Wobei nicht
nur interessant ist, dass beim Auseinandernehmen des Begriffs die
'Weile' schlagartig ihren pejorativen Anstrich verliert, den
sie in der 'Langeweile' noch mit sich schleppt. Vielmehr ist das Wort
'lang' das eigentlich entscheidende. Denn lang ist in diesem
Zusammenhang zeitlich nicht bestimmt, es kann jegliche Zeitspanne
umfassen – von einer Minute bis zur halben Ewigkeit. Und es ist
wohl auch diese Unbestimmheit der Dauer der langen Weile, aus der das
Beunruhigende, das Abstoßende an der Langeweile entspringt. „Warum
haben wir keine Zeit? Inwiefern wollen wir keine Zeit verlieren? Weil
wir sie brauchen und verwenden wollen. Wofür? Für unsere
alltäglichen Beschäftigungen, deren Sklaven wir längst geworden
sind?“, schrieb Martin
Heidegger, der sich viel mit der Langeweile beschäftigt hat. Und
Blaise Pascal brachte es auf den Punkt: „Das ganze Unglück der
Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu
bleiben vermögen.“ In der heutigen Zeit müssten wir nur noch
hinzufügen: allein und ohne jegliche Gerätschaften der modernen
Welt.
Dass die Langeweile in
unserer modernen Zeit eine pejorative Bedeutung angenommen hat, liegt
eben an der historischen Ära selbst: an der (Post)Moderne.
„Vielleicht ist die Langeweile keine Erfindung der Moderne, aber in
ihr grassiert sie”, so der Publizist Wilhelm Schmid. Sie grassiert
so sehr, dass sie, wie es Daniel Hell, Professor für Klinische
Psychiatrie, beschreibt, gar ein „wichtiger Wirtschaftsfaktor“
sei. „Was ginge der Ökonomie verloren, wenn nicht mehr gearbeitet
würde, um der Langeweile zu entrinnen?“, fragt Hell. „Langeweile
ist wohl jene Befindlichkeit, die moderne Menschen am meisten zu
vermeiden und zu bekämpfen suchen. Da aber jede Form von
Unterhaltung, ganz besonders die seichte Unterhaltung, nur
kurzfristig wirkt und den Stachel der stets drohenden Langeweile
nicht wirklich zu ziehen vermag, kann jener Industriezweig mit
ständig anhaltendem Interesse rechnen.“ Zugleich seien immer neue
Reize nötig, um keine Gewöhnung, keinen Überdruss aufkommen zu
lassen, so Hell.
Groß ist vor diesem
Hintergrund die Versuchung, all das Negative aufzulisten, dass die
Langeweile mit sich bringt, und auszubreiten, warum Menschen in aller
Regel nicht zugeben wollen, dass sie sich langweilen, weil es als
Ausdruck dessen gilt, dass man nichts mit sich anzufangen weiß und
Zeit verschwendet – denn im kollektiven Unterbewussten unserer
christlich geprägten Kultur wird die Langeweile immer noch mit der
Akedia, der Todsünde der Trägheit, assoziiert. Auch scheint es
redlich, darauf hinzuweisen, dass die Langeweile tatsächlich auch
Gefahren birgt, sie mit Aufmerksamkeitsstörungen und
Suchtkrankheiten im Kontext steht – die Psychologie spricht
inzwischen gar von „boreout“, wobei Unterforderung am
Arbeitsplatz ebenso zu Krankheit und Stress führen kann, wie das
„burnout“, das auf Überforderung weist.
Dennoch, wir wollen an
dieser Stelle einmal bei der anderen, der schöpferischen Perspektive
der Langeweile verweilen. Denn dass sich in der heutigen Zeit immer
Menschen der 'Entschleunigung' als Gegenstück zur allseitigen
Beschleunigung verschreiben, dass immer mehr Menschen die bewusste
Einsamkeit und Stille der in der Tat still lebenden Natur und
schweigender Berge suchen, dass Stillstand und Einkehr – stärker
als in der Moderne – in der Postmoderne in wachsenden Kreisen nicht
mehr verpönnt sind: all dies mag uns ein positives Anzeichen dafür
sein, dass auch die Langeweile allmählich ihr Negativ-Image ablegt.
Dass es dafür triftige Gründe gibt, dies wusste nicht erst Goethe,
als er jenem Urzustand eine Liebeserklärung zuteil werden ließ.
„Langeweile! Du bist Mutter der Musen.“
Hannah
Arendt unterschied in ihrem Werk „Vita Activa“ den fundamentalen
Prozess, der sich seit der Antike und dem Mittelalter auf eben jener
Ebene, in der auch die Langeweile ihre Heimat hat, in langen
Prozesswellen bis heute vollzogen hat. Dem aktiven Leben, der 'vita
activa', in dem sich heutzutage das Gros der Lebensaktivitäten
zumeist in nach außen gerichteten Handlungen vollzieht, stand laut
Arendt einstmals die 'vita contemplativa' vor, als das bedeutendere,
erhabenere und anzustrebende: es war jenes langsame, nach innen
gerichtete Leben des Geistes. „Was
immer Körper und Seele bewegt, die äußeren wie die inneren
Bewegungen des Sprechens und des Denkens müssen zur Ruhe kommen im
Betrachten der Wahrheit“, schrieb Arendt. Die frühchristlichen
Eremiten etwa, die den Rückzug aus der Welt sprichwörtlich machten,
konnten davon viel erzählen, und einer der Altvätersprüche
lautete: „Gehe zurück in deine Zelle und setze dich
nieder; sie wird dich alles lehren.” Heute
transformieren immer Menschen mit Hilfe der buddhistisch inspirierten
Meditation die Langeweile, indem sie sich geradezu an ihren Kern
anschmiegen, um ihn gleichsam aufzulösen, also: die Zeit als solche
auflösen, um jenseits von ihr die reine, nicht wertende Anschauung
zu erleben. Doch den Weg einer schöpferischen Langeweile könne man
„nicht schnell, durch mentale Techniken womöglich beschleunigt,
hinter sich bringen. Er gehört als Weg bereits zum Ziel. Das lehrt
auch der spirituelle Erfahrungsschatz aller Hochreligionen“,
schreibt Psychiater Hell.
In
der Tat scheint die Langeweile gleichsam der Grund und Boden, auf den
wir mitunter hart fallen, den wir aber zugleich bewusst wahrnehmen
können. Frei nach René Descartes:
Ich langweile mich, also bin ich! Denn die Langeweile ist eben nicht
bloß die Leere, das Nichts. Es ist, wenn sie schon so erlebt wird,
die bewusst erlebte Leere, das durchlebte Nichts, sie ist in mir als
Seiendem. Und dass sie, die Langeweile, immer wieder, von unseren
Kindestagen bis in die letzten Lebensabschnitte wahrgenommen wird,
deutet auf ihre Beständigkeit, ihre reale Existenz, womöglich,
worauf das Goethe-Zitat weist, auch auf ihren nicht unbedeutenden
Anteil an der Unendlichkeit. Sie ähnelt dem Erleben, das wir spüren,
wenn wir bis an die Grenzen des Möglichen ausgeatmet haben und das
uns ein Gefühl vermitteln kann, hinter dieser Atemgrenze existiere
noch etwas Tieferes, irdisch nicht atembares. Analog dazu deutet uns
auch das Erleben der Langeweile einen Horizont, über den wir nicht
blicken können, sie deutet auf etwas, das wir in unserer
Erdgebundenheit vielleicht ahnen, aber nicht gänzlich verstehen
können. Ob wir diesem Zustand nun entrinnen, ihn verdrängen wollen,
oder aber ihn annehmen und seine Wirkung entfalten lassen – dies
liegt in unserer freien Wahl.
Wann aber können wir
von einer positiven Langeweile reden? Ganz subjektiv gesprochen:
… ist
sie etwa stets in jenem Moment des Transits erlebbar, in dem sich ein
Gespräch mit einer nahen oder auch bis dato fernen Person wie mit
einem Mal von einem langweiligen Alltagsplausch hin zu einem
intensiven Dialog entfaltet, weil wir auf etwas Wesentliches stoßen,
oder aber einer der Gesprächsteilnehmer sich dazu entschließt,
bewusst über den „kleinen Plausch“, wie der small talk zurecht
heißt, hinauszugehen und emporzusteigen zu jener Form von Dialog, in
dem die Zeit als gemessene Zeit ihre Bedeutung, ihren Bezug zu
unserem Bewusstsein einbüßt, das sich seinerseits zu wünschen
beginnt, die Zeit möge doch bitte noch eine lange Weile andauern,
und nicht derart schnell vergehen, wie wir es nur allzu häufig
wünschen, oder dass lieber gleich der Teufel die Zeit holen solle,
weil wir uns gerade in einem zeitlosen Dasein mit dem Anderen
bewegen, das und der so anregend sind und unvorhersehbar im Ausgang,
und dass wir, wenn wir uns dies klar machen, es uns den Atem und die
Sprache zugleich verschlagen sollte...
Solche Gespräche etwa
sind es, so meine ich, die nicht nur unsere Bedürfnisse der
Begegnung mit dem Anderen und seinem Antlitz, seinem Angesicht
stillen, die der französische-litauische Philosoph Emmanuel Levinas
so fundamental beschrieb – sondern uns auch den Horizont öffnen,
der von der negativen langen Weile aus zu sehen ist. Die Langeweile
als Sprungbrett.
Heidegger,
der Meister der Zeit-Dechiffrierung, unterscheidet dabei drei
Zustände der Langeweile. Zum einen das „Gelangweilt sein von
etwas“, das auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, zum anderen
das „sich bei etwas langweilen“, wie etwa den erwähnten small
talk. Die womöglich wichtigste Variante der Langeweile, die er als
„Grundrauschen der Existenz“ beschreibt, ist laut Heidegger
jedoch die vollkommen anonyme und existenzielle, der wir auch durch
Handlungen nicht entkommen können. Dieses, sagt Heidegger, erleben
wir als Stillstand – doch genau dieser Stillstand der Zeit war für
ihn selbst Ausgangspunkt der Erkenntnis, dass es Zeit als objektive
Zeit, als etwas Gegebenes, worin wir zeitlich sind, nicht gibt –
sondern Zeit vielmehr erst durch Handeln, und sei es auch „nur“
durch das Denken, überhaupt erst hervorbringen, im übertragenen
Sinne (Lebens-)Geschichten schreiben, seien sie nun klein oder auch
größer. Der Philosoph Rüdiger Safranski bringt es auf den Punkt:
„In der Langeweile merkst du, daß es nichts von Belang gibt, außer
du tust es.“
Hier
scheint die transformative Kraft der Langeweile zu liegen – in der
Erkenntnis, das sie uns gleichsam auf den tiefsten Grund bringen
kann, auf dem wir einen Schritt tun können. „In diesem
Wiederanspringen des Selbst, das sich als Zeitgeber des Lebens zu
sich selbst entschlossen und aus der Langeweile losgerissen hat,
sieht Heidegger die existentielle Freiheit“, schreibt Gilbert
Dietrich auf seinem lesenswerten Philosophieblog „Geist und
Gegenwart“. Wenn wir diesen Transitpunkt einmal bewusst wahrnehmen,
und uns dabei auf unser Empfinden im Zustand der Langeweile und der
schöpferischen Handlung danach konzentrieren, können wir auch die
Relativität der Zeit erleben, die Albert Einstein einmal
augenzwinkernd so beschrieb: „Wenn man zwei Stunden lang mit einem
Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man
jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei
Stunden. Das ist Relativität.“
Auch
die Langeweile – und Dinge sowie Handlungen, die wir als negativ
langweilig erleben – ist dabei mitunter relativ. Wenn Kinder etwa
die komplette Harry-Potter-Geschichte auf der Kinoleinwand gesehen
haben, das kenne ich aus Erfahrung, ist die Wahrscheinlichkeit groß,
dass sie die Lektüre des zu Grunde liegenden Buches (zumindest zu
Beginn) als langweilig erleben werden – in Relation gesetzt zum
impulsübertränkten Film. Denn beim Verfolgen der Buchstaben
geschieht zunächst einmal weniger, als auf dem Bildschirm. Sobald
sie jedoch die Geschichte und ihren Ablauf in ihre Innenwelt verlegen
und dort die eigenen Bilder entstehen lassen, ist es sehr gut
möglich, dass diese Langeweile sich alsbald verflüchtigt – am
besten sollte die Lektüre ohnehin vor dem Filmschauen geschehen.
Überhaupt scheint ein fundamentales Antidotum gegen die zersetzende
Langeweile im Üben des Vertrauens auf das Eigene, auf das Innere,
und den Wert desselben zu liegen. Wenn wir nicht an unserem inneren
Wert – aber auch an unserer Kreativität, Kompetenz, an unseren
Ideen – zweifeln, kann die Langeweile für Kinder wie für uns wohl
selten zerstörerisch wirken.
Hinter
der vordergründigen Leere der Langeweile scheint also etwas zu
liegen, das sich erst nach einer langen Weile entfaltet. Für
Gottesgläubige Menschen kann dies mit der Gewissheit einhergehen,
dass man selbst angesichts eines tief empfundenen inneren Abgrunds
letztlich „nicht tiefer fallen kann als in die Hand Gottes“, wie
Margot Käßmann einst nach einem folgenreichen, für sie wohl alles
andere als langweiligem Ereignis sagte. Doch selbst Atheisten und
Agnostiker müssen an dem 'Nichts' nicht verzweifeln, wie der
rumänische Philosoph Emil Cioran schrieb. „Auf dem Gipfel der
Langeweile erfährt man den Sinn des Nichts, insofern ist dieses auch
kein deprimierender Zustand, da es für einen Nicht-Gläubigen die
Möglichkeit darstellt, das Absolute zu erfahren, so etwas wie den
letzten Augenblick.“ Für Cioran bildet die Langeweile überhaupt
erst den Beginn des Kosmos', der zu Beginn der Welt statisch in der
„Langeweile der Selbstidentität“ verharrt habe, wie er in der
„Gedankendämmerung“ schrieb. Überhaupt können wir, schreibt
Cioran, Langeweile nur empfinden, weil sie eben am Beginn der Welt
stand – als lange Dauer des Nicht-Geschehens, mit der der Kosmos
gefüllt war. Wohl auch daher, meint er, können wir der „Leere der
Zeit“ und der „Hohlheit des Herzens“ nicht entfliehen.
Tatsächlich
scheint es, dass die Flucht aus oder vor der Langeweile prinzipiell
vermieden werden sollte. Vielmehr scheint es sinnig, den durch sie
bewirkten Gefühlszustand vertrauensvoll hinzunehmen, im Bewusstsein,
dass er sich, hingenommen, in etwas anderes wandeln kann. Der
Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel etwa hat sich, wie er sagt,
als Kind stets gelangweilt, weil er nicht so gut wie seine Kumpels
Fußball spielen konnte und häufig am Rand des Spielfelds stand –
doch aus der so verursachten Langeweile heraus hat er zu Büchern
gegriffen, die ihm den Reichtum des verfassten Wortes eröffneten,
bis er schließlich selbst zum Schreibenden wurde. Wie viele
Biographien es gibt, die die Langeweile zu solchen und ähnlichen
Entdeckungen der Welt angestiftet hat, mag kaum gezählt werden. Klar
scheint, dass die Transformation der Langeweile für Kinder, sofern
sie einmal der äußeren Ablenkungen entledigt sind, ein
vergleichsweise Leichteres ist – für eine längere Zeit in die
Natur geworfen, verwandeln Kinder in aller Regel eine zunächst
gespürte, öde Langeweile in spielerisch-entdeckende Zeitlosigkeit.
Wir alle kennen dies wohl aus unserer eigenen Kindheit. Schwieriger
ist es für uns Erwachsene, auch weil wir unsere kindliche
Welt-Naivität allzu oft tief im Keller unseres Bewusstseins verstaut
haben.
Und
dennoch: gerade mit dem größeren Bewusstsein unseres gewachsenen
Selbst kann die Transformation der Langeweile, ihre Umwandlung in die
Muße oder auch in eine neue Handlung, die direkt mit der zuvor
erlebten langen Weile zusammenhängt, eine neue Saat in unsere
(persönliche) Welt austragen. Die durchlebte Langeweile kann uns
Alternativen für das „Nichts“, das „Nicht-Können“, des
„Nicht-Integriert-Sein“ und die empfundene Alternativlosigkeit
des Status Quo eröffnen. In seinem Buch „Alles könnte anders
sein“ etwa beschreibt der Sozialpsychologe Harald Welzer visionär
die gemeinschaftliche Ausgestaltung der Zukunft – und dies scheint
nötig. Wenn wir den heutigen Zeitgeist in den Wohlstandsregionen
dieser Welt als ein in der negativen, von Konsumismus und
Berechenbarkeit durchtränktes Verharren in der negativen langen
Weile beschreiben, so ist laut Welzer „der Traum vom guten Leben
die Voraussetzung, dafür einzutreten, dass die Ungerechtigkeit und
die Destruktivität der menschlichen Lebensform erfolgreich weiter
zivilisiert und eben nicht weiter vertieft werden“.
Für
die schöpferische Annäherung an die Langeweile schlägt Psychiater
Daniel Hell dabei die „Rhythmisierung des Lebens“ vor, einen
„Wechsel von Tätigkeit und Muse, ein Vor und Zurück in vita
activa und vita contemplativa“. Denn „erst wenn die Langeweile
eine Suche initiiert, die dem Verweilen eine Chance gibt, kann eine
Gegenwärtigkeit erfahren werden, die zeitlos scheint, weil die Zeit
weder nach vorne drängt noch rückwärts zieht. Vielmehr öffnet sie
sich dem Leben, wie es ist.“ Wenn wir uns jedoch der Langeweile
hingeben oder sie uns ereilt, sollten wir sie freilich nicht im Sinne
des rationalistischen Zeitgeistes angehen – das also etwas dabei
herauskommen soll oder gar muss. Denn planbar ist ihr Verlauf und
Ergebnis ohnehin nicht. Die Langeweile, schrieb Friedrich Nietzsche,
ist „eine unangenehme Windstille der Seele – welche der
glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“. Zwar muss
die Windstille nicht immer unangenehm sein, aber auch nicht immer ist
die Fahrt danach glücklich, die Winde nicht immer lustig. Der Autor
dieses Textes hat, dies bleibe nicht unerwähnt, große Angst vor
dieser fehlenden Planbarkeit der Langeweile – ich fliehe immer
wieder vor ihr. Doch künftig, hoffentlich, seltener.
Neue
Weiterfahrt
Bis der Zug mit rund
drei Stunden Verspätung im Hauptbahnhof der Kapitale eingefahren
war, haben sich etliche der zuvor still sitzenden Passagiere in
Dialoge verwickelt, deren Inhalt Stoff für etliche kleine
Geschichten böte – wie jene der 13-Jährigen Anna, zu deren Dialog
mit der Mama sich eine ältere Dame hinzugesellte, die dem Mädchen
die Augen für die Bedeutung des politischen Engagements öffnete.
Als sich indes der grauhaarige Herr Kowalski von der jungen Frau, die
sich als Sarah vorgestellt hatte, verabschiedet, sagt diese: „Ich
würde sie gerne zu einem Konzert einladen, das ich am Sonntag gebe.
Ich spiele mit meinem Trio eigene Stücke, in eines davon habe ich
Motive des Mozart-Requiems in D-Moll einfließen lassen – und von
seiner Zauberflöte.“ Vielleicht, sagt Sarah, werde der 49-jährige
Mann, der sich vor den Zug geworfen hatte – diese Information war
online nach kurzer Zeit abrufbar – von irgendwo mithören. Sie habe
jedenfalls lang und mühevoll an ihrem kleinen Werk gearbeitet. „Es
ist lang, aber langweilig soll es nicht werden!“
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Juni 2019
erschienen in: Sozialismus, Juli 2019
Zum
Tod des polnischen Sozialisten, Oppositionellen und Historikers Karol
Modzelewski
Real
praktizierender Utopist
Von
Jan Opielka
Es
war ein langes, mäanderndes, ereignisreiches Leben, das am 28. April
dieses Jahres den letzten Atemzug nahm. Der polnische Intellektuelle
und Oppositionelle Karol Modzelewski war, als er 81-jährig verstarb,
ein erfüllter Mensch – der trotz Wandlungen bis zuletzt an seinen
sozialistischen Idealen festgehalten hat. „Ich war Historiker,
Rebell, ein Mensch jener „Solidarność“,
die nicht mehr existiert. Ich hatte zwei Seelen – ich wollte
humanistischer Forscher, Historiker sein. Aber als man zuschlagen
musste, ja dann musste man eben“, sagte er im Jahr 2017. „Im
Grunde habe ich alles im Leben rechtzeitig geschafft.“
Der
1937 in Moskau als Cyril Budniewicz und Kind russischer Eltern
geborene Modzelewski gilt auch jenseits dieser Selbsteinschätzung
als einer der wohl wirkmächtigsten Intellektuellen und zugleich
politisch konsequentesten Aktivisten im Nachkriegspolen – und als
wichtige Gallionsfigur der Opposition gegen das realsozialistische
Regime, das er, paradoxerweise, von linken und sozialistischen
Positionen aus bekämpfte. Mit acht Jahren nach Polen übergesiedelt,
wuchs er im Laufe seines Lebens in jene Kreise hinein,
die in der russischen und auch der polnischen Tradition als
'Intelligenzija' bezeichnet
werden; Personen mit meist höherer Bildung, die sich zudem aktiv am
gesellschaftlichen Leben beteiligen – und sich politisch
engagieren. Modzelewski repräsentiert in dieser Hinsicht dessen
radikalen Archetypus, der sich eben vor
allem in politisch mitunter gefährlicher Aktivität innerhalb
autoritärer Regime vollends kristallisiert.
Denn
lange achteinhalb Jahre – so lange saß der Sohn einer
jüdischen Mutter für sein politisches Engagement in Gefängnissen,
zwei Mal in den 1960er und frühen 1970er Jahren, ein drittes Mal
nach der Ausrufung des Kriegsrechts Ende 1981, als Polens
Staatsführung der ersten Solidarność-Bewegung
auch angesichts eines möglichen Einmarsches von Sowjettruppen den
Garaus machte. Dass Modzelewski, trotz dieser Haft-Triade, der Triade
der Französischen Revolution bis zuletzt treu blieb, darauf weist
auch ein in Polen weithin bekanntes Modzelewski-Bonmot: Als Lech
Wałęsa 2008 bei einer Podiumsdiskussion
sagte, man habe in und mit der Solidarność
den Weg für den Kapitalismus ebnen müssen, weil es „keinen
dritten Weg gibt“, antwortete der anwesende Modzelewski empört:
„Ich denke, Lech Wałęsa war wohl der
einzige, der damals an den Kapitalismus dachte. Ich habe ganz sicher
nicht daran gedacht, und das aus vielen Gründen. Für den
Kapitalismus hätte ich nicht nur keine achteinhalb Jahre, sondern
nicht mal einen Monat oder eine Woche gesessen – weil er das nicht
wert ist.“ Polen, sagte er
häufig, habe zwar nach 1989 die Freiheit gewonnen: „Aber die
Gleichheit und die Solidarität blieben auf der Strecke.“
In
Kindheit und Jugend während der stalinistischen Zeit
parteikommunistisch erzogen, verwarf er auch nach seiner allmählichen
Abkehr vom Regime-Kommunismus und dem Aufdecken
des Stalin-Terrors das Streben nach Gleichheit und Solidarität
nicht – auch wegen seines Stiefvaters Zygmunt Modzelewski, der
1947-1951 Außenminister war. „Man kann sagen, dass ich
Revolutionär in zweiter Generation war. Mein Vater war wirklicher
Kommunist und versuchte im Polen der Zwischenkriegszeit unter
Bergleuten (…) für die proletarische Revolution, an die er tief
glaubte, zu kämpfen.“ Mit diesen Einflüssen im Gepäck, suchte
auch der junge Modzelewski den intensiven Kontakt mit den arbeitenden
Klassen. Als Geschichtsstudent arbeitete er in Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften, wirkte als Aktivist der kommunistischen
Jugendvereinigung ZMP mit Arbeitervertretern der Warschauer
Autofabrik FSO zusammen, lebte und
arbeitete später als Häftling unter und mit Kriminellen. „In der
Zeit, als ich in der Strafanstalt selbst
schwere körperliche Arbeiten verrichtete, habe ich meine Neigung
abgelegt, die Mühen der Arbeiterschaft zu poetisieren. Doch es blieb
mir aus jener Zeit (…) die Achtung vor der physischen Arbeit sowie
die Überzeugung, dass sie in nichts schlechter ist als die geistige
Arbeit all jener, die eine höhere Bildung erlangen konnten.“
Jenseits
dieser persönlichen Einstellung reflektierte Modzelewski den
Stellenwert der Arbeitklasse im Marxismus später als „Mythos, der
mit dem Mythos der proletarischen Revolution gekoppelt
war”. Am Beispiel der bolschewistischen Revolution habe man
ihn und seinesgleichen in der Volksrepublik Polen gelehrt, „dass
das Proletariat nicht aus sich
selbst heraus eine Kraft zum Umsturz des Kapitalismus wird, sondern
dank der Missionsarbeit bewusster Intelektueller, die den
revolutionären Geist in die Arbeiterklasse tragen.“ Diese Lehren,
sagt er, seien „nicht umsonst gewesen, sie wurden für uns zum
Kompass unseres praktischen Handelns, als wir selbst den Kampf gegen
die kommunistische Diktatur aufnahmen. In diesem Fall also ist die
Indoktrination dem System nicht gut bekommen.“ Erstmals fundamental
geschah dies im Jahr 1964. Sein gemeinsam mit Jacek Kuroń
verfasster
„Offener Brief an die Partei“, an die Polnische Vereinigte
Arbeiterpartei (PVAP) gerichtet – in die er 1957 beigetreten war
und
aus der er kurz vor dem 'Brief' rausgeworfen wurde
– gilt
daher als das Aufbäumen gegen den erstarrenden Staatskommunismus,
dessen
Nomenklatura selbst eine priviligierte Klasse gebildet habe.
Der
Brief argumentierte
nicht
gegen den Sozialismus als solchen.
Seinerzeit
brachte ihm die konsequent marxistisch verfasste Schrift, von der
sich Modzelewski später als zu „doktrinär“ distanzierte,
zweieinhalb Jahre Gefängnis ein, trug aber zugleich seinen Ruf als
kluger Rebell ins Land, und auch über die Landesgrenzen bis hin zu
den West-Protestlern des Jahres 1968. Daniel Cohn-Bendit, bei einem
Gerichtsprozess nach dem Namen gefragt, sagte nur: 'Kuroń
Modzelewski'. „Meine Intention war es zu zeigen, welche Qualität
diese Opposition hatte, und welches Bewusstsein wir oder ich über
Polen als einen totalitären Staat“, sagte Cohn-Bendit vor einigen
Jahren. Dass Polen nach 1956, im Zuge der Entstalinisierung und der
Tauwetterperiode unter PVAP-Chef Władysław
Gomułka, totalitär war, dies verneinte
Modzelewski später – schon aufgrund eigener
Anklage- und Hafterfahrungen, die
mitnichten mit stalinistischen Verhältnissen vergleichbar waren, wie
er schrieb.
Nach
seiner Entlassung 1967 war sein
rebellischer Geist indes alles andere als gebrochen. Für die während
des polnischen März 1968 protestierenden Studierenden war er eine
der Leitfiguren. Er stellte sich erneut in die erste Schusslinie,
prägte den Protestslogan „Unabhänigkeit ohne Zensur“,
organisierte Demos gegen den Uni-Rausschmiss von sog.
'Komandosi'-Studierenden wie den heutigen Chef der liberalen
Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ Adam Michnik, die alsbald in einer
antisemitischen Kampagne der Regierung als „zionistische fünfte
Kolonne“ gebrandmarkt und großenteils aus dem Land gedrängt
wurden. Modzelewski selbst landete 1969 erneut im Gefängnis. Als er
dieses 1971 verließ, zog er sich weitgehend aus seiner
Oppositionstätigkeit zurück, ging als Historiker nach Breslau,
vertiefte sich ins Mittelalter.
Doch
1980 kam erneut die Zeit, als „man zuschlagen musste“ –
Proteste in der Danziger Werft hatten sich
aufgrund massiver ökonomischer Probleme und der Entlassung von
widerständigen Arbeitern zugespitzt. Modzelewski, der
„Sonntagspolitiker“, wie ihn sein enger Freund Kuroń
später beschrieb, stellte sich wieder in die
erste Reihe. Dass die als eine der bedeutendsten Arbeiterbewegungen
des 20. Jahrhunderts geltende „Solidarność”
die Solidarität als säkulares Synonym für
Brüderlichkeit aus der Triade der Französischen Revolution zum
Namen hatte, war Modzelewskis Idee. „Mein wichtigster politischer
Erfolg ist der 17. September 1980, die Bildung einer Gewerkschaft,
mit ihrem Namen, und der Einfluss, den ich auf diese Gewerkschaft
ausüben konnte, zunächst als Pressesprecher, und später, etwas
weniger, als Mitglied der Landeskommission“, sagte er 2017. 1980
indes hatte er vehement dafür optiert, landesweit eine einzige
Gewerkschaft zu bilden, und nicht, wie von vielen führenden
Oppositionellen vorgeschlagen, separate regionale.
Bei
der Solidarność der
Jahre 1980/81, die er „in der Erinnerung, im Bauch, im Blut“ habe
und die „das wohl wichtigste Erlebnis meines Lebens war“, konnte
Modzelewski mithin nicht anders, als sie in geradezu romantische,
erhabene Worte zu kleiden. „Die Revolution sprengt die rationalen
Formeln von Politologen, denn sie ist ein gemeinschaftlicher und
nicht alltäglicher Geisteszustand einer großen Masse von Menschen.
Dieser Geisteszustand kommt nicht von nirgendwo, er erwächst aus der
lange währenden Alltäglichkeit, doch er verneint sie, bildet einen
Akt der Selbstbefreiung. Für einige zehntausend Arbeiter, die am 18.
August 1980 die Danziger Werft und mit ihr verbündete Betriebe
besetzten, und kurze Zeit später für hunderttausende Teilnehmer
großer solidarischer Streiks im gesamten Land, sowie schließlich im
September und Oktober für Millionen von Polen, die durch ihre
eigenen Handlungen oder zumindest durch ihre Entscheidung zum
Beitritt zur Gewerkschaft die große Solidarność
schufen – für
sie alle war das Schlagwort „Von Partei und Staat unabhängige
Gewerkschaften“ wie eine Offenbarung der Freiheit, die das Volk auf
die Barrikaden führt“, schreibt er in seiner 2014 erschienenen
Autobiographie „Wir reiten die Stute der Geschichte zu
Tode“ (nur auf Poln.). Das im Dezember
1981 ausgerufene Kriegsrecht habe indes den Menschen und der
Bewegung das Genick gebrochen. „Die große
Solidarność der
Jahre 1980-81 war eine gemeinschaftliche, egalitäre und im Grunde
sozialistische Bewegung. Zwei Jahre nach Ausrufung des Kriegsrechts
galt für die Untergrund-Solidarność keine dieser Beschreibungen
mehr.“
Bei
der Ausgestaltung der Wendezeit von 1989 und danach zählte
Modzelewski nicht mehr zu den Hauptprotagonisten. Der
links-gewerkschaftliche Flügel der Solidarność
war geschwächt und wurde marginalisiert,
demokratische Sozialisten wie Modzelewski in der Minderheit. Zwar
konnte Modzelewski 1989 einen Sitz in der neu gebildeten 2.
Parlamentskammer (Senat) erringen, doch er gehörte zu den nur
wenigen, die sich den seit Herbst und Winter 1989/90 eingeführten,
radikalen Reformen widersetzten. Er selbst gründete die Vereinigung
„Solidarität der Arbeit“ als „Gruppe zur Verteidigung der
Arbeiterinteressen“, die alsbald in der linken Partei Union der
Arbeit (UP) aufging, die jedoch trotz ihres Achtungserfolgs bei den
Parlamentswahlen 1993 auch als Teil der postkommunistischen Allianz
der Demokratischen Linken (SLD) keinen entscheidenden Einfluss auf
den neoliberalen Kurs Polens gen EG/EU und NATO nehmen konnte.
Denn
unter Finanzminister Leszek Balcerowicz und unter Druck
des Internationalen Währungsfonds (IWF) traten
seit dem 1. Januar 1990 und danach eine Reihe von Gesetzen in Kraft,
die einen „Kopfsprung in den Kapitalismus“ bedeuteten, eine heute
als „Schocktherapie“ bezeichnete Politik ohne Rücksicht auf
menschliche Kollateralschäden. Die Lebensmittelpreise wurden
freigegeben, Staatsbetriebe per Gesetz benachteiligt, um sie für
Privatisierungen freizugeben oder zu schließen, der Markt wurde für
ausländische Produkte geöffnet, alle landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften kurzerhand geschlossen. Die bislang
unbekannte Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf drei
Millionen, Industrieproduktion und Inlandsprodukt brachen ebenso ein
wie die schon zuvor geringe Kaufkraft – und zugleich rissen sich
gewiefte Geschäftsleute, oft einstige kommunistische Kader, die
Filetstücke an Staatsbetrieben unter den Nagel. „Der Mythos der
Solidarność von
1980/81 wurde nach 1989 benutzt, um die Kräfte des
gesellschaftlichen Widerstands angesichts der brutalen und radikalen
Transformation in Polen zu betäuben. Er wurde benutzt und er wurde
verschlissen. Was übrig blieb, war das Misstrauen gegenüber jenen
Eliten, die diesen großen Systemwandel vollzogen haben“, sagte
Modzelewski im Jahr 2018 im Gespräch. Daher auch der Erfolg
der seit 2015 regierenden Recht und
Gerechtigkeit (PiS). „Populisten konnten sagen:
es kamen Diebe, sie belogen uns, haben uns alles entrissen, was wir
hatten. Die großzügige Sozialpolitik der PiS ist daher eine Antwort
auf die Schmerzen des degradierten Teils der Gesellschaft.“
Modzelewski
engagierte sich seit den 1990er Jahren hie und da politisch, mit
Erfolg etwa gegen ein geplantes Reprivatisierungsgesetz, das einst
enteignete Besitzer von Immobilien großzügig entschädigen sollte.
Doch er zog sich alsbald auf sein zweites Standbein, die Mediävistik,
zurück, wurde Professor an der Universität von Warschau, später
Vorstandsmitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN).
Sein unter Mitelalter-Fachleuten auch im Ausland vielbeachtetes Werk
„Barbarisches Europa“, das er neben der Arbeit an der Warschauer
Alma Mater als „größten beruflichen Erfolg“ sah, zeichnet die
gesellschaftlich-politische Entwicklung des Kontinents jenseits der
christlichen und jüdischen Einflüsse nach. Zu den Verbindungen
zwischen dem Marxismus und der Eschatologie hatte Modzelewski, der
selbst nicht religiös war, indes eine
pointierte Position. „Das christliche Denken kann als Wertesystem
der Welt nicht ohne die eschatologische Vision des Reiches Gottes auf
Erden auskommen. Nur im Glanze dieses
künftigen Königreichs kann man all das Böse der Welt erblicken und
anprangern. Die
Marx'sche Kritik des Kapitalismus wäre
ohne die utopische Vision einer
klassenlosen Gesellschaft undenkbar, in der
die Menschheit frei sein wird von jeglicher Ungerechtigkeit und
Unterdrückung. (…) Der axiologische Horizont ist zwar nicht
erreichbar, doch zugleich unabdingbar für
die Schärfe der Sicht.“
In
der Zeit nach der Krise von 2008 fanden Modzelewski gesellschaftliche
Diagnosen wieder mehr Gehör. Ins Licht der breiteren Öffentlichkeit
kehrte er 2014 zurück, als seine politische Autobiographie den
renommiertesten polnischen Buchpreis NIKE gewann. Das leider nicht
ins Deutsche übersetzte Buch ist ein Parforceritt über die
Nachkriegsgeschichte Polens – auch wenn der Autor und Protagonist
seinen Leserinnen und Lesern zum Schluss keinen anderen Hinweis geben
kann, als den folgenden: „Im Lichte
meiner Erfahrungen ist Revolution entweder unmöglich,
oder aber zu kostspielig, in jedem Fall endet sie nicht so, wie wir
es gerne hätten. Der Revolutionär kann das nicht wissen. Das
Unwissen beflügelt ihn, es erlaubt ihm, unmögliche Dinge zu tun,
dank denen sich die Welt ändert. Er wird danach enttäuscht sein
oder zumindest unzufrieden ob des Wandels, zu dem er beitrug – doch
dies ist schon eine gänzlich andere Frage.“
In
außerparlamentarischen linken Milieus gilt Modzelewski bis heute
ungebrochen als Ikone – dies dürfte sich künftig noch verstärken.
„Wenn ich schreibe, dass die größte lebende, moralische Autorität
der Linken und überhaupt der polnischen Politik verstorben ist, dann
werde ich sein Missfallen erregen“, schrieb der bekannte linke
Publizist und Aktivist Slawomir Sierakowski in einem Nachruf. „Wir
werden Sie vermissen, Herr Professor.“ In der Tat. Und vom Autor
dieses Textes noch dies – mein Dank. An einen Meister.
////
März 2019
Furcht
und Zeit
Ein
philosophischer Essay über die Abgründe
des Wahrnehmens und das Prinzip des kommunikativen Tuns. Von
Jan Opielka
„Was
ist die Zeit?“ – fragte der Junge seinen Papa. Dieser wusste zunächst
nicht, was er antworten sollte. Da fragte er zurück: - „Was
denkst Du denn, was sie ist?“ Der Junge machte seine Augen ganz
weit auf, blickte sich kurz im Raum um, fragte sich nach innen, und
sagte dann: - „Sie ist mir so fern, ich kann sie nicht in die Hand
nehmen, manchmal läuft sie so schnell, und wenn sie mir weg flieht,
fürchte ich mich.“ Sein Papa lächelte, dann griff er seine
Hand. „Fühlst du jetzt, genau jetzt meine Berührung? Vielleicht
ist in ihr auch die Zeit, die du so gerne greifen willst.“
///
Zur
rechten Zeit da sein, aus der Zeit fallen, die Zeit zurückdrehen,
den Zeitgeist spüren, das Zeitliche segnen - in welcher Form auch
immer: die Zeit und ihre Dimensionen in unserem Dasein sind es, die
uns unsere Entfaltung jenseits des Tierischen ermöglichen – und
uns gleichzeitig Furcht einflößen. Nur dem Menschen als Lebewesen
dieser Erde ist es vergönnt, in Zeitdimensionen jenseits des Jetzt
und der unmittelbar folgenden Zukunft, dem nächsten Moment, denken
und fühlen zu können. Wir Menschen denken im Jetzt, aber zugleich
auch in der so nahen und der doch sehr fernen Zeitferne, wir planen
sie akribisch auf Jahre hinaus, gehen Kreditverträge mit
ungeheuerlich langen Laufzeiten ein, investieren in die Zukunft, an
deren künftiger Realisierung wir heute unsere Handlungen ausrichten
und uns binden. Weil sie meist so nicht kommen, verursachen sie Angst
in uns.
Ende
der vermessenen Geschichte
In
den heutigen Zeiten wird die Furcht ein noch größerer Gegner –
ihr natürliches Entstehen wird durch die Widersprüche des
Spätkapitalismus, der sein Netz über die gesamte Welt ausgebreitet
und diese ins Extreme polarisiert hat, noch radikal verstärkt. Wie
Volker Demuth in seinem Beitrag „Dem Ufer nah“ in den Lettre
International eindrücklich darlegt, sind wir in unseren Leben
inzwischen so sehr dem „Zeit-Regime“ untergeordnet, dass etwa
„Europas doppelte Buchführung der Zeit, Mythos und Geschichte,
sich in den feinen Maschen der Minuten und Sekunden aufgelöst
(hat)“. Die Zeit – genauer: die alle Lebensbereiche
durchdringende Zeitmessung – ist zum „Regime über das Ereignis“
geworden. Bei dem so entstehenden „linearisierten Bewusstsein“
stehe „das aufgezählte Leben dem erzähltem Leben gegenüber, wie
die gerade Linie dem Augenblick, von dem an manches oder alles eine
andere Wendung nimmt“, schreibt Demuth.
Aufgezähltes Leben steht nicht nur vom Begriff her dem „Zählen“
nahe, es ist ein Kernelement der kapitalistisch vermessenen und damit
gezählten Welt – gezählt und eingeordnet in der Möglichkeit, wie
weit jedes einzelne Stück von ihr verwertet werden kann. Unsere so
geprägten Gesellschaften wollen in diesem Geiste auch die Zukunft
absehbar vermessen – doch dies scheint ein Ding der Unmöglichkeit.
Wie
sicher werden etwa die Rente, unsere Klimaerde, unsere Landesgrenzen
nach einer linearen Ereignisfolge im Jahr 2048 sein? Ganz sicher,
ziemlich sicher, oder vielleicht ganz und gar unsicher? Immer weniger
Menschen glauben, und das wohl durchaus zu Recht, dass ein
wahrscheinliches Zukunftsszenario heute für die Zeit in zehn,
geschweige denn in 30 Jahren möglich ist.
Wir
können die Zukunft nicht planen. Und doch haben wir in den liberalen
Demokratien vor allem in den letzten Jahrzehnten das Gefühl
entwickelt, dass wir es könnten. Haben nicht alle Staatsväter der
westlich-kapitalistischen Welt stets betont, der Sozialismus werde
eines Tages eine krachende Niederlage erleiden, und das im weitesten
Sinne Westliche werde – triumphieren? Und als es scheinbar so kam –
ist es da nicht verständlich, dass viele Menschen tatsächlich an
das Ende der Geschichte glaubten, in deren Richtung sie sie doch mehr
oder weniger aktiv schaffend und leistend mitgelenkt haben? Ein
großes Selbstbewusstsein entsteht, wenn ein ganzes Lebens- und
Gesellschaftssystem, dessen Teil ich bin, scheinbar obsiegt – und
diesen Sieg vorher auch noch vorausgesagt hat.
Nun
zeigen uns aber die Entwicklungen der letzten drei Dekaden seit dem
Systemumbruch im Osten, dass wir die Zukunft wohl etwas anders
geplant haben, als sie nun gekommen ist. Und der Systemumbruch im
Osten ist der Knackpunkt, aus europäischer Sicht zumal. Denn der
Zusammenbruch des sowjetisch dominierten Sozialismus beeinflusste
auch den Westen massiv, weil politische Kräfte auf der siegreichen
marktwirtschaftlichen Seite des Eisernen Vorhangs seit 1989 wegen der
kläglich gescheiterten Links-Alternative immer selbstbewusster die
wohlfahrtsstaatlichen Anker lösen konnten. Die große Bremsung der
seit den 1980ern in den USA und Großbritannien und etwas später in
Kontinentaleuropa beschleunigten Lokomotive des Neoliberalismus kam
2008 mit der Lehman-Pleite und der darauf folgenden Finanzkrise.
Hatte es nicht schon zuvor, nach dem Ende des Kalten Krieges, eine
Friedensdividende geben sollen? Stattdessen gab und gibt es nicht nur
immer mehr soziale Ungerechtigkeit, sondern auch mehr Kriege, mehr
Notleidende, mehr Flüchtlinge, mehr Verwerfungen infolge des immer
unbändiger agierenden Kapitalismus in seiner neoliberalen Variante.
Von
den fatalen Folgen, die uns auf dieser brüchigen Basis in naher
Zukunft ereilen könnten, scheinen immer mehr Menschen eine Ahnung zu
bekommen. Denn wenn auf den allgemeinen Rechtsruck, der bereits in
derzeit relativer wirtschaftlicher Stabilität gedeihen kann, die
sich immer stärker abzeichnende Katastrophe an den Finanzmärkten
aufprallt, wird dies dieses Mal nicht mehr nur die Weltwirtschaft bis
ins Mark erschüttern. Geld gibt es an den Finanzmärkten heute quasi
kostenlos – daher die auf der Zeitachse beschleunigende Dynamik an
den Börsen dieser Welt, die in den letzten Jahren tendenziell so
kräftig nach oben zeigte. Die Entschleunigung, die sich immer
deutlicher am Horizont abzeichnet, wird keine angenehme Bremsung sein
– eher das genaue Gegenteil. Es wird brutal. Die politische Rechte
wird dann, und dies wird der große Unterschied zu 2008 sein, ihr
weitaus hässlicheres Antlitz zeigen, als sie es derzeit schon tut.
Was
wird also passieren, wenn eine schwere Weltwirtschaftskrise die
rechten und zugleich kompromisslos kapitalistischen Parteien
weltflächendeckend an die Macht bringen wird, wie sie es derzeit
tendenziell tut – mit den infiltrierenden Cyber-Werkzeugen der
Manipulation an der Hand, mit Millionen von geladenen Waffen in den
Arsenalen und an neuen alten Fronten, mit den ungestillten
archaischen Stammes- und Machtsehnsüchten, mit den starren Grenzen
in den Köpfen? Und konfrontiert mit der aus allen zerrissenen und
zerbombten Ländern der Welt ins westliche Gesicht wehenden Klage:
„Ihr bringt uns Ausbeutung, Krieg und Elend, wir hassen Euch!“
Diesen Schrei der Verdammten dieser Erde werden die Rechten nicht
hören. Weil sie ihn zubomben werden, wie sie es jetzt bereits tun.
Mit dem Iran als nächstem Ziel. Und dass dieses so kommen würde,
das haben die US-Machthaber schon mit ihrem Kriegstanz in
Saudi-Arabien im Mai 2017 angekündigt, kurz nachdem sie einen der
größten Rüstungsdeals der Weltgeschichte, mit einem seinerzeitigen
Umfang von mehr als 100 Milliarden US-Dollar, unterzeichnet hatten.
Heute ist Saudi-Arabien, als Aggressor im benachbarten Jemen und als
staatlicher Auftragsmörder von Menschen, die ihre Freiheit leben und
äußern wollen, zu jener fleischfressenden Pflanze emporgewachsen,
zu der das Königreich durch die Vereinigten Staaten und ihren
industriell-militärischen Komplex gezüchtet wurde. Die Welt brennt,
und es droht, ein noch größerer Flächenbrand zu werden.
Der
Fetisch der Gewalt
Zugegeben,
ein düsteres Szenario, mit dem wir wieder bei der Zeitdimension des
Menschen und seines Denkens sind, der so eine Zukunft wohl ganz und
gar nicht will – viele unter uns sie aber so oder ähnlich intuitiv
vorausahnen – und sich manche eine Apokalypse tatsächlich
herbeisehnen, offenbar im Geiste des 'Mythos der Gewalt', wie ihn vor
über 100 Jahren der französische Sozialphilosoph Georges Sorel
entfaltete. Sorels Ideen, von dem sich einst die Faschisten um Benito
Mussolini inspirieren ließen, werden heute wieder bei der Neuen
Rechten wirkmächtig, auch in der Alternative für Deutschland (AfD),
wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe in seinem jüngsten Buch,
„1968: Zeiten des Übergangs“, schreibt. Und Sorels Ideen haben
es in sich. „Antibürgerliches Denken, Vernunftkritik – nicht in
der Tradition von Marx und Engels, sondern von Nietzsche und Bergson
- verbindet sich hier mit der Verherrlichung eines 'Heroismus der
Tat', einer Ästhetisierung der Gewalt und des politischen
Aktivismus“, schreibt Deppe.
Es
ist zum einen dieser auf die jeweiligen nationalen Legenden und
Mythen bezogener 'Heroismus der Tat', der immer mehr Menschen in
ihrer politischen Ausrichtung nach rechts zieht. Die Menschen sehnen
sich nach Taten, eindeutigen Taten und Handlungen, die ihr Leben in
Spannung versetzen. Bisweilen verschwimmt es in der „flüssigen
Moderne“, wie es der polnische Soziologe Zygmunt Bauman fasste.
Bauman kennzeichnete die damit verbundenen, diffusen Ängste zugleich
als „flüssige Ängste“. Die Anker vor allzu viel
Flüssig-Unbestimmtem suchen immer mehr Menschen nun im nationalen
Rückzug, dort soll es sicherer, überschaubarer, vertrauter sein, um
sich der globalen Verworrenheit und all der mit ihr verbundenen
Gefahren zu entledigen.
Die
Einzigartigkeit der menschlichen Zeitempfindung liegt darin, dass er
das Kommende – ebenso wie das Vergangene, wenn auch etwas anders –
nicht nur denken, sondern auch fühlen kann. Weil wir als Menschen
die Zukunftserwartung oder verschiedene ihrer Optionen nicht nur
denken, sondern auch fühlen können, empfinden viele von uns beim
Anblick der heutigen Welt und korreliert mit dem Gedanken, was aus
ihr bald wohl noch werden könnte, kein Wohlgefühl, sondern
Bitterkeit. Und Furcht, in ihrer kleineren Form, der Angst.
Es
ist jedoch gerade und in der Regel nicht so sehr die konkret gelebte
Gegenwart, die uns Angst macht. Es ist das Vorfühlen einer möglichen
Zukunft. Denn wie viele von all jenen unter uns, die sich etwa durch
Flüchtlinge bedroht fühlen, haben tatsächlich eine
Bedrohungssituation mit einem Flüchtling persönlich erlebt? All die
anderen unter uns quält, verstärkt durch Einflüsterung von außen
und rechts, die Angst vor einer Zukunft, in der sich diese Bedrohung
tatsächlich am eigenen Leibe realisieren könnte. In dieser Weise
bindet uns unsere Zukunftsprojektion an negative Gefühle – und
diese negativen Gefühle treiben in der Folge unser Handeln in eine
ihnen entsprechende Richtung der Angst, verstärkt durch die digitale
Infiltration und ein Übermaß an Informationen, unter denen die
wahren und die falschen immer schwerer zu unterscheiden sind. Der
2003 verstorbene Philosoph und Kulturkritiker Neil Postman schrieb in
seinem seinerzeit visionären Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“
(1985) in Bezug auf die Zukunftsvisionen von George Orwell („1984“)
und Aldous Huxley („Schöne Neue Welt“) folgende Worte: „Orwell
hatte Angst, dass die Wahrheit vor uns verborgen gehalten würde.
Huxley hatte Angst, dass die Wahrheit im Meer des Irrelevanten
etrinken würde. (…) Orwell fürchtete diejenigen, die uns
Informationen vorenthalten würden. Huxley fürchtete diejenigen, die
uns so viel geben würden, dass wir auf Passivität und Egoismus
reduziert würden.“
Hoher
Berg im Innenraum
Die
Bindung an die Zeitdimensionen unseres Denkens bestimmt im
erheblichen Maße unsere Empfindung des Jetzt – das tatsächlich
das absolut Entgegengesetzte eben dieses Jetzt-Gefühls sein kann.
Denn wir können am schönsten Berggipfel der Alpen vor der rot
untergehenden Sonne stehen, die kommenden Sterne erahnen, das Weite
einmal fassen können, die Menschheit in einem erhabenen Moment als
Einheit spüren – all dieses Wahrnehmen aber von dem
(Zukunfts)Gedanken gefangen nehmen lassen, dass wir nach Ankunft
daheim den Job verlieren werden. Unabhängig davon, wie
wahrscheinlich dies auch eintreffen mag, wird unser großartiger
Moment des Jetzt – auf einem Gipfel thronen, tief einatmen, die
Einsamkeit des großen Daseins als Windhauch in den Haaren spüren,
den Liebsten oder die Liebste umarmen zu können – durch einen
abstrakten Gedanken einer nicht vorhandenen Zukunft infiltriert. Die
Angst übernimmt also das Kommando, anstatt dass die Tiefen- und
Höhenerfahrung des Momentes uns Auftrieb und Mut gibt für das, was
da kommen möge – auch den Jobverlust. „Ich hatte das bescheidene
Glück, armselig aufzuwachsen“, schrieb die kluge, gewitzte
Publizistin Mely Kiyak vor einer Dekade, als sie ihrem Vater, einem
einfachen, stolzen Arbeiter und sturen, liebenden Papa, ein
essayistisches Erinnerungsstück reichte, auf dem geschrieben stand:
„Nur Mut“.
„Im Gegensatz zu einigen meiner Altersgenossen ist das Milieu, in
das ich zurückfallen könnte, mir wohl vertraut. Sollte ich den
bescheidenen Wohlstand der Mittelschicht verlieren, habe ich mich
immerhin an die feine Parfümierung von Stokolan (Pflegecreme für
besonders beanspruchte Hände, J.O.) gewöhnt. Ich habe keine Angst
vor der Zukunft.“
Eine
mythische Ebene unseres in der Zeit eingebetteten Ersteigens der
Berge und damit dem Lösen aus der Angst zeichnet indes Clarissa
Pinkola Estes in ihrem meisterlich märchenhaften Buch „Die
Wolfsfrau“. „Im Buddhismus“, schreibt die Psychoanalytykerin
und Märchensammlerin, „gibt es den nyübu-Brauch, der darin
besteht, auf einen hohen Berg zu steigen, um sich selbst zu verstehen
und die Verbindung mit dem Großen zu erneuern. Es ist ein sehr
altes, mit der Vorbereitung der Erde, dem Säen und Ernten
verbundenes Ritual. Wenn es nur möglich ist, sollten wir einen
echten Berg ersteigen, doch es gibt Berge auch in der psychischen
Welt, im Unbewussten. (…) Die höchsten Abschnitte des Berges
symbolisieren, dass wir intensiv Wissen erlangen, die Luft ist dort
dünn, wir brauchen Ausdauer und Disziplin, um die Aufgaben zu
meistern.“
Die
von Estes beschriebenen Gipfelmomente, die uns gegen die Angst
stärken, finden nicht nur auf Bergen statt. Leider ist es so, dass
viele von uns zu wenige Gipfelerfahrungen persönlich realisieren –
weil wir nicht wollen oder nicht können oder nicht dürfen. Häufig
werden wir dabei durch äußere Umstände gehindert, punktuell oder
chronisch, wie etwa Menschen, die auf den unteren Stufen der sozialen
Leiter stehen und auf eben jenen Stufen arbeiten - und Arbeit,
vielmehr der Charakter der Arbeit und die damit verbundenen
Beziehungen, werden heute in ihrer bewusstseinsschaffenden und
politischen Dimension unterschätzt. Die Arbeitszeit und der Inhalt
der Tätigkeiten allzu vieler Menschen sind kaum von
Gipfelerfahrungen geprägt, sie verschleißen sich jeden Tag an der
Herstellung von Produkten oder dem Verkauf von Dienstleistungen, mit
denen sie sich ganz und gar nicht identifizieren können – sie, als
einzigartige Personen und Menschen. Von diesen täglich mindestens
acht Stunden Lebenserfahrungen geprägt wird die restliche Tageszeit
von vielen Menschen auch tatsächlich als eine solche Resterfahrung
wahrgenommen, und in ihr wird die Motivation für etwaige aktive und
werthaltige Gipfelerfahrungen durch das vorherige
In-Arbeit-Sein-und-nicht-bei-sich-Sein, das unser Bewusstsein prägt,
minimiert. Hunderte Millionen, eher Milliarden von Menschen in den
Armuts- und Kriegsregionen dieser Welt sind dabei angesichts ihrer
katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen weit davon entfernt,
über lebensbereichernde Gipfelstürme auch nur nachdenken zu können,
so dass ihnen verständlicherweise das, was wir im Westen als Norm
leben können, bereits als dekadent erscheinen muss.
Das
Drama als Spiel und Spektakel
Wir
vergleichsweise deutlich besser Situierten in der symbolischen
westlichen Hemisphäre erhalten in unserer „Freizeit“ Ersatz –
die Welt bietet Gipfelerfahrungen in konzentrierter, aber passiver,
verabreichter Form: wir konsumieren die Gipfelerfahrungen anderer,
die wir als Stars sehen, etwa der Sportlerinnen und Sportler. Dies
hat der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner meisterhaften Erzählung
„Du musst Dein Leben ändern“ eindrücklich gezeigt. Die
Athletinnen und Athleten zeigen uns (symbolisch auch durch ihre
Körper ausgedrückt), was auch wir erreichen können, wenn wir, die
Zeit im Jetzt und der Zukunft nutzen würden, uns ebenfalls auf eine
Sache voll zu konzentrieren, alles auf eine Karte zu setzen und
dadurch den Gipfel zu erklimmen – Weltmeister zu werden, Champion
der Herzen, tragischer Held, unbeugsame Kämpferin. Die Sportlerinnen
und Sportler, und nicht nur sie, spielen uns jene Rollen oder
vielmehr jene Tugenden vor, die wir selbst auch gerne spielen und
verinnerlichen würden – ganz und gar nicht im Sport. Je weniger
eigene Gipfel wir jedoch erklimmen, mit desto mehr Konsum fremder,
stellvertretender Gipfelerfahrungen kompensieren wir dies.
Doch
viele kleine Gipfel, zumindest erlebenswerte Hügel, auf denen wir
die Zeit ausschalten und den Moment in seiner wahrnehmbaren,
malerischen, tragischen Vielfalt wahrnehmen könnten, verpassen wir,
weil wir sie nicht als solche erkennen – wir verpassen sie und
erkennen sie nicht, weil wir durch unsere Zukunftsperspektive stets
schon mindestens im nächsten Moment sind, und in der Regel noch viel
weiter. Wenn Sie als Leserin oder Leser diesen Satz gelesen haben,
werden Sie gedanklich bei ihm nur verbleiben, wenn er Sie packen
sollte, wenn Sie in ihm etwas wirklich Einzigartiges zu erkennen
glauben – jene Spur des blauen Elefanten zum Beispiel – so dass
sie innehalten würden, um über ihn nachzudenken. Indes, verursacht
der Satz das Beschriebene nicht, werden sie weiterlesen, und
womöglich schon drei Sätze später darüber nachdenken, wann sie
ihren Sohn von der Schule abholen wollten. Sie werden gedanklich wohl
auch recht bald schon mal in der kommenden Woche vorbeischauen –
wollte da nicht ihr alter Freund vorbeikommen? Und so weiter. Den
Momenten, in denen ein intensiver, langsamer Blick in die Tiefe und,
die erweiterte Form, ein Teilen dieser Erfahrung mit einem oder
mehreren anderen Menschen auf dieser Ebene uns auf einen symbolhaften
Gipfel führen kann, entfliehen wir dadurch, dass wir sie nicht
sehen, oder sie nicht aktiv und bewusst gestalten. Oder beides. Das
ist auf der persönlichen Ebene mehr als schade – auf der
gemeinschaftlich-politischen indes ist es verhängnisvoll.
Denn
wenn wir gemeinschaftlich zu stark auf die Zukunft fokussieren, und
nicht zunächst das sehen, was und wen wir jetzt vor und in uns
haben, wie viel es eigentlich ist, an weit gefasstem, absolutem
Wohlstand – und was wir daraus alles machen könnten, etwa mit den
100 erwähnten verbrannten Milliarden – dann werden solche
gemeinschaftlichen Zukunftsvisionen zumal in Zeiten des Umbruchs
zerstörerisch wirken. Wir empfinden eine
gemeinschaftliche, etwa eine nationale Zukunftsperspektive noch
nachdrücklicher, noch stärker auf unser Bewusstsein einwirkend –
weil wir eine gemeinschaftliche Zukunftserwartung als
wahrscheinlicher und nachhaltiger denken und fühlen, als es bei
unseren eher persönlichen Zukunftsgedanken der Fall ist. Die
gemeinschaftlichen Zukunftsperspektiven, die nationalen, etwa jene
aus Programmen politischer Parteien, aber auch umfassende und
wirkmächtige Losungen wie „Demokratie, Marktwirtschaft,
Menschenrechte“, beinhalten als Fundament insgesamt recht stabile
Wirklichkeiten oder Subsysteme der Wirklichkeit: Staaten, Gerichte,
Schulen und Universitäten, Polizei, Armeen, soziale
Sicherungssysteme etc. Wir vertrauen diesen, von einzelnen Personen
als unabhängig wahrgenommen Subsystemen der Wirklichkeit, dass sie
unsere Erwartungen der Zukunft in dieser auch wirklich umrahmen und
stabilisieren können. So soll etwa ein Gericht, oder allgemeiner:
das Recht, auch in dreißig Jahren noch meinen Anspruch auf mein
Eigentum schützen – sonst nehme ich natürlich keinen Kredit. Und
die Rentenversicherung in 30 Jahren, und so weiter. Andere, nicht nur
wir selbst, sichern also unsere Zukunftsentwürfe ab. Wenn nun jedoch
unser Vertrauen in die beschriebenen, äußeren Subsysteme der
Wirklichkeit immer stärker wankt oder diese tatsächlich an
Autorität verlieren, und zudem unser Vertrauen in uns selbst, als
autonome, wenn auch in gemeinsame Kontexte eingebundene Wesen,
relativ wenig ausgeprägt ist, ist eine aus dieser Mischung
entstehende Zukunftserwartung der Menschen, vor allem aber die
Zukunftserwartung ganzer Gruppen oder gar Nationen, nicht sehr rosig.
Sie wird düster, angstvoll und abwehrend. Und heraus kommen
fragwürdige Alternativen nicht nur für Deutschland.
Die
rechte Spur
Die
Zukunft, das ist die heute immer stärker geteilte Projektion vieler
Menschen, wird nicht gut aussehen. Es ist dies ein fundamental
anderer Zeitgeist als jener, der noch vor rund 25 Jahren in der
westlichen Hemisphäre vorherrschte, in erster Linie auf die eigene
Nation bezogen, den eigenen Staat – und darin die eigene Zukunft.
Wohlstand für alle am Ende der Geschichte – dies war in etwa das
Versprechen in Francis Fukuyamas Diagnose vom angeblichen Finale der
Menschheitssaga. Doch dieses Versprechen erwies sich in großen
Teilen, oder vielmehr für große Teile der Menschheit, als
Mär. Und so setzt der in die Mitten der Gesellschaften drängende
Zeitgeist – ein rechtskonservativer Rückzug auf das scheinbar
überschaubare Nationale, das gefährdet scheint, mit dem vagen
Versprechen der Rückkehr zu alter neuer Größe – eine sich selbst
erfüllende Prophezeiung in Gang, die sich derzeit vor unser aller
Augen in immer mehr Köpfen entfaltet.
Und
diese Köpfe schließen sich zu immer größeren Gruppen zusammen.
Die rechten Parteien in ganz Europa wachsen und sind auch im Aufwind,
weil sie den Menschen ihre Zukunftsängste zu nehmen versprechen.
Doch die Instrumente, die sie dafür nutzen und künftig wohl noch
radikaler nutzen wollen, waren, sind und werden aus schwarz-weißen
Bildern der Welt zusammengeschustert, weil das Regenbogenfarbene
blendet, aus Angst, Misstrauen und Verschwörungsdenken, die gesät
werden, die Welt in Freund und Feind teilen, das archaische
Stammesdenken befördern, (gerecht geflossenes) Blut, Opfer und Krieg
verklären. Und das Grundlegende des nach rechts Strebenden: sich von
allem abgrenzen, das meine und unsere (nationale) Zukunft ja nicht
berühren, und schon gar nicht mitgestalten soll. Die Fremden.
Dass
viele Menschen sich in unseren rasant beschleunigten Zeiten, in denen
der tägliche Zufluss an Informationen die Verunsicherung des
Einzelnen befördert, nach einer sicheren Zukunftsperspektive sehnen,
ist fundamental für den Aufstieg der Rechten. Denn diese stellen
ihrem Schreckensszenario einer entgrenzten, multikulturellen,
zerfallenden Gemeinschaft ein stabiles Zukunftsbild entgegen. „Wir
sind auf der einen Seite, Millionen von Menschen mit nationalen
Gefühlen, während auf der anderen Seite die Elite der ‚Weltbürger‘
ist. Nationale und demokratische Kräfte sind auf der einen Seite,
und supranationale und antidemokratische Kräfte sind auf der
anderen“, sagt Ungarns Premier Viktor Orban. Der Politiker kann als
stellvertretend für den rechten Geist der Zeit in seiner
(ost)europäischen Variante stehen – auch weil auf der vom ihm und
seiner Gruppierung bereits seit über acht Jahren beackerten
magyarischen Erde die neue Saat bereits sehr konkrete Früchte trägt,
die keine süßen sind. Sie schmecken nach bitterem Autoritarismus,
der sich auf eine kapitalistische Oligarchie stützt.
Das
Beispiel Ungarns ist – nicht nur wegen der Dauer der Orbanschen
Machtausübung, sondern auch wegen seiner kühl-autoritären
Effizienz – eines, das die Ziele der an Macht gewinnenden
Rechtskonservativen und Nationalisten auch anderswo mit am
deutlichsten offenlegt. Möglich und wirklich werden diese rechten
Wege nur durch den gleichzeitigen ruhmreichen Rückblick – schwarze
Flecken werden gerne in Graustufen gesetzt -, also die Einbindung der
nationalen Geschichte, konkreter: den daraus
potenziell zu schöpfenden Ruhm, in die Gegenwart. Die rechten Parteien und Gruppen
betonen stets das Große, das Heroische, auch das mythisch
Aufgeladene ihrer nationalen Geschichte – das aus ihrer Sicht
Fundamentale, das die nationale Gemeinschaft auch künftig tragen
soll. Und diese nationale Gemeinschaft soll, was ihre Mitglieder
betrifft, auch künftig so bleiben, wie sie ist, beziehungsweise
wieder „reiner“ werden. Eine sichere, große Zukunft also ohne
all jene, die eine Verunsicherung dieser vagen Zukunftsprojektionen
erzeugen: die Fremden, die Muslime, die Schwarzen. Aber auch die
radikal anders Denkenden, anders Lebenden.
Die
Rechten, in allen Ausprägungen von Alt-Nazis zu den Neonazis, über
die Identitären, die nationalistischen Alternativen bis zu den
Konservativen rechts außen, haben in unserer Zeit so viel Zuspruch,
weil es die Zeiten der visionären Erzählungen sind.
Denn wenn wir Menschen große Angst haben, fangen wir wirklich
an, die großen vagen pathetischen Erzählungen zu glauben – und
Visionen sind in der Regel vage und pathetisch. Wenn wir vor
konkreten großen Ängsten stehen, oder sie uns auch nur für die
Zukunft fühlend vorstellen, müssen auch die Gegenreaktionen oder
die Gegenerzählungen groß sein, damit sie uns wieder halbwegs ins
gefühlte Gleichgewicht des Daseins bringen.
Mut
und Handeln
Welche
großen Erzählungen eignen sich, die Furcht, die weiter reicht als
die Angst, zu überwinden? Die Furcht ist hier und dort, sie wächst,
wenn wir mehrheitlich oder ausschließlich passive Beobachter, und
nicht Handelnde sind – und wenn wir zugleich unsere
Handlungsfähigkeit, die über unser nahes persönliches Umfeld
hinausreicht, als solche infrage stellen. „Handeln, das in der
Anonymität verbleibt, ist sinnlos und verfällt in Vergessenheit; es
ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte“,
schrieb Hannah Arendt. Wenn wir es nicht wagen, nicht dürfen, nicht
können, wenn wir es aus welchen Gründen auch immer nicht vermögen,
handelnd in das feine Netz zwischen uns und die Menschen unsere
willentlich getränkten Fäden einzuspinnen, dann fallen wir in
Richtung Ohnmacht, wir fühlen uns verloren, anonym – und
verlassen. Handeln erfordert die Kommunikation, das Sprechen. In der
schwindelerregenden, spätkapitalistisch geprägten Verlassenheit
sprechen wir wenig, obwohl wir uns täglich begegnen. Wir können
unser Handeln nicht auf das Wesentliche am Leben, die Menschen und
die weitgefasste Kultur, richten, sondern sind mit den Ängsten und
Sorgen des täglichen Lebens konfrontiert, die uns absorbieren und
sich nach außen hin eben in einer angstvollen Abwehrhaltung
verhärten. Unser im weiten Maße imaginiertes Heim gleicht dann
psychisch einem Kokon, einer Eierschale, die scheinbaren Schutz
bietet, in der wir aber unfrei werden und nicht sichtbar. Die Schatten im Innern nehmen überhand - und die gefährliche
Projektion unserer Schattenseiten auf den 'Anderen'.
Notwendig sei daher
eine Rückkehr zu Mythos und Symbolen, schrieb der Psychologe Carl Gustav Jung, denn: „Wenn symbolische
Ideen verloren gehen, werden die Brücken zum Unbewussten
unterbrochen. Kein Instinkt schützt mehr vor ungesunden Ideen und
hochtrabenden Worthülsen. Ohne Tradition und instinktiven Grund hat
die Vernunft keinen Schutz vor Absurdität.“ Wir lachen über den
als Schamanen gekleideten Mann, der mit seinesgleichen das US-Kapitol
stürmte – dabei sagt uns sein Bild womöglich etwas, das weit
tiefer reicht als in die Zeit tragischer Komödien der alten
Griechen. „Wo der rationalistische Materialismus vorherrscht“, so
Jung, „entwickeln sich Staaten weniger zu Gefängnissen, als zu
Irrenanstalten.“
Hannah
Arendt (1906-1975), eine der freiesten und radikalsten Stimmen der
politischen Theorie und der politischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts, hat, als vielfach getriebener Flüchtling und als
Staatenlose, im Sprechen und Schreiben stets gehandelt. Ihr Denken
ist in mannigfaltiger Kolorierung in die Gegenwart der politischen
Ideen eingeflossen. Das Handeln ist in der Umfassung von Arendt ein
vielstimmiges, resonierendes Gedicht. Es ist, grundsätzlich von der
Arbeit und dem Herstellen verschieden, eine Art von Erzählung, die
potenziell von jedem Menschen in das „Bezugsgewebe menschlicher
Angelegenheiten“ eingeflochten werden kann. Dass der Mensch dies
tun kann, sagt Arendt, liegt daran, dass er als Neugeborenes sodann
in eine Welt kommt, in der es nach seinem ersten Anfang einen
weiteren Anfang zu setzen fähig ist – und so weiter bis ans Ende
seiner Geschichte. „Mit der
Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei
der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit
außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr
immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich
nichts anderes sagen will, als dass die Erschaffung des Menschen mit
der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt“, schreibt sie.
Der
Anfang und das Handeln in der Freiheit – denen Arendt in
wunderbaren Passagen ihres Werks „Vita Activa“ auf den Grund geht
– sind fundamental mit den hier von uns erörterten Phänomenen
verbunden: der Furcht und der Zeit. Im freien Handeln nähern sich
Gegenwart und Zukunft stets an, vereinigen sich mitunter. Das bloße
Dauern oder Andauern eines Zustands – ob einer konkreten persönlichen oder auch einer politischen Situation des Stillstands – wird
durch das Handeln aufgebrochen. Wir treten mit jedem Akt stets mit
einem Bein in die Zukunft, die zur neuen Gegenwart wird – ein
entschiedenes Handeln ist damit in der Regel gleichbedeutend mit dem
Nivellieren der Zeit als gemessene und vermessene Zeit bzw. mit der
Transformation der Zeit – der Verschmelzung der Gegenwart mit der
Zukunft. Jeder Anfang, vor allem aber jede Handlung, die ein
Dauerhaftes, Neues will und dadurch neue Realitäten schafft bzw.
initiiert, ohne um ihre Enden wissen zu können; sie setzt stets die
Zeit neu. Durch Handeln greift der Mensch in die Zukunft vor, indem
er aus seiner (oder ihrer) Idee der Zukunft, zu der eine Handlung
führen soll, Realität zu gestalten beginnt. Daher wird im Handeln
die Zukunft greifbar, zumindest fühlbar, und auch wenn sie weiterhin
unvorhersehbar und unbestimmbar bleibt, wird diese im Handeln
erschlossene Zukunft tendenziell – furchtfreier. Die Furcht
verschwindet mit der Entscheidung zur und dem Vollziehen der freien
Handlung. „Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich
einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des
Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er
selbst ergreift“, so Arendt. Ein Leben ohne Sprechen und Handeln,
schreibt Arendt, wäre daher „buchstäblich kein Leben mehr, sondern
ein in die Länge des Menschenlebens gezogenes Sterben“. Viele
Menschen erleben jedoch einen Mangel an eigenem Handeln in
schöpferischer Tätigkeit und gemeinschaftlicher Aktivität, die
durch das in enge Korsetts eingezwungene Dasein verhindert werden.
Doch das Handeln als Möglichkeit ist stets da, es ist greifbar und
realisierbar - auch wenn es mitunter eines radikalen Bruchs mit dem bestehenden Alten erfordert, ob persönlich oder politisch. „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen
jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit
ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie
vorher so nicht sichtbar waren“, schreibt Arendt. Der Mensch, wohl
jeder einzelne, will sichtbar werden und sich in seiner
Sichtbarwerdung im Dasein spüren.
An
die Ränder, weg von der Mitte
Daher
erleben wir derzeit, dass die Menschen in ihren nationalen
Gesellschaften etwa in Staaten der EU nicht nur verhärten und rechts
zusammenrücken, sondern sich auch in progressive Spannung versetzen,
um sichtbar und gehört zu werden. Immer mehr Menschen handeln
öffentlich – als außerparlamentarische Opposition, als Aktive in
Bürgerinitiativen, als Teilnehmende bei Protesten und mit langem
Atem in weitgefasst sozialen Vereinigungen, als engagierte
Küstlerinnen und Künstler.
Einige
taten dies schon immer, wie der unverbesserliche Konstantin Wecker,
der so viel mehr als nur
„Nein!“ sagt. „Ich bin Künstler und bekennender
Utopist. Ich werde nicht aufhören, von einer grenzenlosen Welt zu
träumen. Ohne Visionen werden wir ersticken an unserer
Bürgerlichkeit und geistigen Sattheit. Ich lasse mich nicht auf
einen nationalen Sozialismus ein. Ich kann Menschen lieben, aber
keine Nation, kein Vaterland“, sagt der 71-Jährige in einem
Interview in der Musik- und Politik-Zeitschrift „Melodie
und Rhythmus“. Weckers Worte sind nicht nur Meinung, sondern
kristallisieren sein Handeln der vergangenen fünf Dekaden und seinen
immensen Beitrag zur antifaschistischen Bewegung in Deutschland, und
für einiges mehr. „Egal, ob seine Werke politisch sind oder ob er
Schlager singt: Kein Künstler darf sich jetzt mehr raushalten.
Europa droht faschistisch zu werden. Wir müssen etwas dagegen tun“,
sagt Wecker.
Früher
wurden Menschen wie Wecker, die unermüdlich gegen Faschismus und
später gegen die neoliberalen Auswüchse protestierten, von der
Mitte der Gesellschaft ab verlacht. Heute bestätigen sich Rufe wie
die seinen, und werden gehört. Die
neuen Erzählungen sind angstfreier, sie sprießen aus den
Bruchstellen der Gesellschaften, in denen sich die Menschen aktiv dem
weitgefassten Politischen zuwenden. „Zwei Dinge bedeuten heute,
dass eine gravierende Veränderung, eine Umwälzung ‚von unten‘,
eine Veränderung, angeführt von den Glücklosen, eine Veränderung
in der Organisationsform der Welt eher möglich ist als zuvor“,
schreibt der US-amerikanische Schriftsteller Shawn Wallace.
Der erste Faktor sei „der Umstand, dass nun eine weltweite
Kommunikation zwischen den glücklosen Menschen möglich ist. Der
zweite ist, dass eine dramatische Veränderung irgendeiner Art so
oder so unvermeidlich ist, weil es entweder eine Form vernünftig
durchgeführter globaler Veränderung geben wird oder eine völlig
chaotische Umwälzung, denn die Flüsse strömen durch die Straßen
der Stadt und die meisten Gattungen des Planeten, die unsere
eingeschlossen, werden eine nach der anderen erkranken und sterben.“ Angesichts dieses apokalyptischen Zukunftsszenarios sieht der 74-Jährige
eine Hoffnung; eine, die an der in der Dunkelheit liegenden Basis ansetzt: „Die Nacht ist ein
wundervoller Segen. (…) Wir können innehalten. Wir können
nachdenken. Und noch einmal anfangen, anders.“
//
Der
Sohn hielt die wohltuend warme Hand seines Vaters fest, schaute ihm
erstaunt in die Augen und sagte: „Die Zeit fühle ich nicht. Aber Papa, ich wollte noch was fragen: was ist das, das Nichts? Reden wir
darüber, morgen? Jetzt, ja jetzt – will ich mit Dir die Sendung
mit der Maus und ihrem Freund sehen. Willst du auch?“
-----
März 2019
Zeitenwende
in Polen?
Das
Jahr 2019 wird für Polen ein enstcheidendes: Die Europawahlen, vor
allem aber die Parlamentswahlen im Herbst entscheiden darüber, ob
sich das Land weiter nach rechts in Richtung ungarischer Verhältnisse
bewegt, oder aber die Polinnen und Polen den
nationalistisch-autoritären Kurs der Regierung der Recht und
Gerechtigkeit (PiS) abschmettern. Die Chancen für die Opposition
standen lange nicht so gut. Drei Faktoren könnten diese entscheidend
verbessern: die gesellschaftlichen
Nachwirkungen der Ermordung
des Danziger Präsidenten, die Selbstentlarvung
der PiS und ihres Chefs Jarosław Kaczyński –
und die neue Mitte-Links-Partei „Wiosna“, die in Umfragen
inzwischen drittstärkste Kraft wäre. In ihrer Verbindung bringen
die drei Aspekte schon jetzt spürbar Bewegung
ins Land – und verändern den
öffentlichen Diskurs.
Von
Jan Opielka
Danzig,
das polnische Gdańsk, ist eine besondere Stadt. Einst reicher
Teil der Hanse, in der Zwischenkriegszeit als freie Stadt Zankapfel
zwischen Polen und dem Dritten Reich, in den Jahren des polnischen
Sozialismus eine der Brutstätten der blutig
niedergeschlagenen Arbeiterproteste im
Jahr 1970 –
und zehn Jahre später Geburtsort
der Solidarność-Bewegung.
Anfang März wurde erstmals eine Frau Präsidentin der Stadt. Die
außerplanmäßige Wahl von Aleksandra Dulkiewicz war indes durch
einen traurigen Umstand bewirkt worden
– die
Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł
Adamowicz vor nunmehr gut acht Wochen. Seither ist von
Gdańsk
aus Bewegung ins Land gekommen, deren
Auswirkungen erst
durch
einen kurzen
Rückblick
nachvollziehbarer werden.
Ein
Hassmord
und
seine Folgen
Ein
junger Mensch, ein unschuldiges Opfer, ein Mord – und eine Welle
gegen den sich an Weichsel und Warthe ausbreitenden Hass als Folge.
Wenn sich Stefan W., der am 13. Januar
dieses Jahres bei einer
Benefizveranstaltung in Danzig
Stadtpräsident Paweł Adamowicz vor aller Welt Augen niederstach,
einige Folgen seiner Tat vorgedacht hatte, dann höchstwahrscehinlich
nicht diese: hunderttausende Menschen, die im
ganzen Land auf die Straßen und Marktplätze gingen, um des
53-Jährigen zu gedenken – und wie wachgerüttelt offen über den
sich ausbreitenden Hass zu reden. Denn Stefan
W. hat, so rief er nach seinen tödlichen
Stichen ins Mikrofon, mit seiner Tat auch auf die heute
oppositionelle Partei Bürgerplattform (PO) eingestochen, die er für
seine über fünfjährige Gefängnisstrafe verantwortlich macht.
Zuletzt unabhängig, war
Adamowicz jahrelang in der
liberalkonservativen PO aktiv. „Ein
tragisches Ereignis verdichtet die Realität”, schrieb
Tadeusz Sławek nach der Tat in dem
progressiven katholischen Wochenmagazin „Tygodnik Powszechny”.
„Eine bislang durch unsere Gewohnheiten und fehlende Aufmerksamkeit
verdünnte Realität, zersplittert in Bröckchen
einzelner, miteinander nicht verbundener Geschehnisse, erlangt nun
eine ungewöhnliche Schwere. Sie überschreitet die kritische Masse,
explodiert, und bewegt sich blitzartig mit einer gewaltigen
Druckwelle.“
Sławek
schrieb diese Worte kurz nach Adamowiczs Tod. Nun, da gut zwei Monate
vergangen sind, erscheint nur die „gewaltige Druckwelle“ als
überzeichnet. Denn die Nachwirkungen des Mordes sind eher subtiler
Natur, sie haben sich verselbständigt – und die Erinnerung an den
Tod mischt sich dabei mit weiteren Ereignissen in der polnischen
Politik. Den Mord selbst hat bislang weder die
Opposition als politisches
Thema vereinnahmt, noch konnte die regierende Recht und
Gerechtigkeit (PiS) überzeugend darlegen,
dass sie nichts mit dem rauen gesellschaftlichen
Klima, das den Täter womöglich beeinflusste,
zu tun habe. Adamowiczs Tod, so jäh, brutal und unerwartet, scheint
sich dennoch als ein symbolisches Ereignis
in den Köpfen vieler meiner Landsleute festzusetzen.
In einer repräsentativen
Umfrage kurz nach dem
Mordfall sagten zwei Drittel der Befragten, dass sie Hass-Sprache in
ihrem Alltag erleben – meist im Fernsehen oder sozialen Medien –
und über 80 Prozent sehen dies als „wichtiges Problem“. Der
angesehene Dominikanerpater Ludwik
Wiśniewski,
ein ehemaliger, geachteter Oppositioneller und Freund von Adamowicz,
hatte
es
bei
der Trauerfeier in der Danziger Marienkirche ganz direkt gesagt:
„Ich bin überzeugt davon, dass Paweł will, dass ich die folgenden
Worte ausspreche: wir müssen dem
Hass
ein Ende
setzen, wir müssen der Hasssprache ein Ende setzen, wir müssen der
Verachtung ein Ende setzen. Heute
erleben wir in Danzig einen neuen, historischen Moment: ganz Polen –
womöglich nicht nur Polen – wartet, dass von hier aus die
Botschaft ausgeht, die bei jedem Polen ankommt und das moralische
Gleichgewicht in unserem Land und unseren Herzen wiederherstellt.“
Die
Trauerrede, oder vielmehr: der
eindringliche
säkulare Appell des
82-jährigen
Wiśniewski,
der sich seit Jahrzehnten politisch einmischt, wurde landauf landab
zitiert. Es scheint, als wüchse eine
Sehnsucht
nach Maßstäben, die für alle gelten sollen – für die politisch
Andersdenkenden wie für mich selbst. „Es geht um Ehrlichkeit,
genauer: um Ehrlichkeit gegenüber uns
selbst“,
schreibt Tadeusz Sławek.
Denn
„was erfahren wir und was lehrt uns das tragische Ereignis von
Danzig über uns selbst, was können wir über die Gründe dieser
Schmach sagen und – wie könnten wir dem weiteren Abgleiten in die
Barbarei begegnen?“
Der
Tod des Präsidenten Paweł
Adamowicz könnte
durch die Verkettung der Umstände
eine für
diese langen Momente der
kommenden Zeit einende
Rolle erlangen.
Sein
Tod und
die Umstände der Trauer scheinen
zu einem sanften
Fanal geworden,
das die Menschen auch jenseits der Parteigrenzen erfasst. Denn die
große Mauer zwischen ihnen ist es, die der PiS, aber nicht nur ihr,
bislang
so
sehr nützt. Die dadurch befeuerte subtile und weniger subtile
Dehumanisierung der Anhänger anderer politischer Parteien oder von
Minderheiten in der öffentlichen Sphäre – sie zeichnet maßgeblich
für die feindselige Atmosphäre im Land verantwortlich.
Eine
aktuelle Studie
des Zentrums der Erforschung von Vorurteilen an der Universität
Warschau (UW) förderte dazu Beachtenswertes zutage. Die Erhebumg
„Politische Polarisierung in Polen. Wie gespalten sind wir?“
zeigt, dass mehr als die Hälfte der Ende 2018 befragten Polinnen und
Polen die Anhänger des jeweils anderen politischen Lagers – PiS
auf der einen Seite, Oppositionsparteien auf der anderen –
„entmenschlichen“ (dehumanisieren), diesen also „menschliche
Eigenschaften absprechen“, und sie wortwörtlich näher an den
Menschenaffen sehen denn am voll entwickelten Menschen. Dies könne
sich in der Nichtakzeptanz gegenüber politisch Andersdenkenden, in
der bewussten Isolierung dieser Menschen oder auch in Gewalt äußern,
so die Autorin der Studie Paulina Górska.
Bemerkenswert ist,
dass es
die Anhänger der Oppositionsparteien sind, die die Wähler der PiS
häufiger als menschlich weniger entwickelt abwerten – womöglich
auch, weil sie
sich als Opfer der regierenden PiS in Ohnmacht wähnen, wie Górska
einräumt.
Doch der Hass, zumindest die Verachtung sind in der Tat beidseitig.
„Um es klar zu sagen – das, was wir über die Einstellungen von
anderen uns gegenüber denken, steht in enger Verbindung zu unseren
eigenen Positionen“, schreibt Psychologin
Górska.
Wunden
der
Wendezeit
als Wurzeln
Viele
Menschen im Land sprechen kaum mit Anhängern der anderen Seite –
zumindest nicht über die Politik. Diejenigen, die es tun, das
belegte nicht zuletzt die oben erwähnte Studie, haben ein
positiveres Bild der angeblichen „Gegner“. Doch die Mehrheit
bleibt geteilt, sagt auch Karol Modzelewski, einer der wichtigsten
Oppositionellen der Zeit bis 1989. Der heute 81-Jährige war einst in
der Solidarność
aktiv, nach
den
Umbrüchen von 1989 sagte er indes:
„Für den
Kapitalismus habe ich nicht gekämpft und im Gefängnis gesessen.“
Nun sieht er Polen „gesellschaftlich in etwa in der Hälfte
getrennt, wie durch eine chinesische Mauer. Durch diese Mauer dringen
keine Informationen, Argumente und Werte auf die jeweils andere Seite
durch. Die großzügige Sozialpolitik der PiS ist eine Antwort auf
die Schmerzen des degradierten Teils der Gesellschaft. Wir haben also
zwei Gesellschaften im Land.“
Die
PiS konnte
bislang mit
ihrer schwarz-weißen Politik bei so vielen Menschen auf fruchtbaren
Boden bauen, weil
viele im Land
selber die Erfahrung des Gedemütigtseins gemacht haben – durch den
Neoliberalismus, der ihnen seit der großen Wende von 1989 die im
August 1980 in Danzig geborene Solidarność,
die
Solidarität,
eine der
weltweit
bedeutendsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts, brutal zunichte
gemacht hat. „Der
Mythos der Solidarność von 1980/81 wurde nach 1989 benutzt, um die
Kräfte des gesellschaftlichen Widerstands angesichts der brutalen
und radikalen Transformation in Polen zu betäuben“, sagt
Modzelewski. Neben
den nach 1989 brachial einsetzenden ökonomischen und sozialen
Problemen und Ängsten mussten und müssen sie zudem faktisch oder
zumindest mental ihre Rolle als Schulkinder (Musterschüler) des sie
belehrenden Westens ertragen – eine demütigende Erfahrung für
erwachsene Menschen. Sie stellt sich etwa bei einem polnischen
Arbeiter am Band eines deutschen Automobilerstellers in Polen ein,
der die nächste Schraube mit dem Bewusstsein einsetzt, dass sein
Kollege in einem deutschen Werk das Drei- oder Vierfache für die
gleiche Arbeit erhält. Die Schlechteren verdienen weniger – sie
müssen erst aufholen und nachahmen; dies ist die täglich erlebte
Lebensbotschaft von Millionen von Menschen. „Im
Leben des Nachahmenden vermischen sich zwangsläufig Gefühle der
Unzulänglichkeit, Unterlegenheit und Abhängigkeit, des
Identitätsverlustes und der unwillkürlichen Unaufrichtigkeit“,
schreibt der für seine Werke zum Thema Mittel- und Osteuropa
bekannte bulgarische Politologe Ivan Krastev. „Imitatoren sind
niemals glückliche Menschen.“
Nun
hat die PiS in ihren vergangenen drei Regierungsjahren auf diesen
Umstand mit einem durchaus beachtlichen Sozial- und
Arbeitspolitikprogramm reagiert – und die materielle
Lebenssituation von Millionen von Menschen im Land spürbar
verbessert. Vor allem deshalb hat sie aktuell Zustimmungswerte von
aktuell 34-41 Prozent. Zugleich hat die PiS der Abreaktion auf die
Demütigung vieler dieser unglücklichen Menschen Raum geöffnet –
gegen die „Kommunisten und Diebe“, jene der „schlechteren
Sorte“, wie es, von Jarosław Kaczyński
und seinen Ergebenen vor einigen Jahren formuliert wurde und
inzwischen zum unrühmlichen Sprichwort avancierte. All jene Polinnen
und Polen sollen dies sein, die einen besseren Übergang ins
Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus der Weichsel-Art mit seinen
altpolnisch feudalen Strukturen und in den Wirren der Globalisierung
geschafft haben. Sie waren und sind, in dem Narrativ der PiS, die
korrupten Nutznießer der Transformation nach dem Kollaps des
Sozialismus'. Nutznießer an und jenseits
der Grenze des Legalen gab und gibt es freilich – doch sie sind die
Minderheit. Die Mehrheit sind Menschen, die etwa für ihr Leben
ebenso hart arbeiten müssen, wie PiS-Anhänger auch.
Doch
ohne Generalisierung keine Feind-Propaganda, ohne Feind-Propaganda
indes keine Wahlsiege
vor allem für Parteien wie die PiS oder die ungarische
Fidesz, die ihre Anhängerschaft jenseits durchaus progressiver
Sozialpolitik mit Rachegelüsten speisen, Anderen die
Daseinsberechtigung im öffentlichen Raum absprechen zu dürfen.
Der polnische Soziologe und Publizist Sławomir
Sierakowski bringt es auf den Punkt: die politische Trennlinie
verlaufe in Polen bislang „nicht zwischen rechts und links, sondern
zwischen richtig und falsch”. Politische Gegner seien in dieser
Perspektive „illegitime Gegner, die nicht nur geschlagen, sondern
entrechtet werden sollten“, so Sierakowski.
Der
Gesichtsverlust
der
geldresistenen PiS
Doch
dieses radikale Narrativ, von dem auch Teile der liberalen Opposition
erfasst sind, zeigt immer größere Bruchstellen – nicht zuletzt im
Nachklang des Mordfalls von Danzig, der die Debatten im Land zu
zivilisieren scheint. In der regierenden PiS weiß der übermächtige
Parteichef der PiS, Jarosław Kaczyński,
die ausbrechenden Konflikte und Probleme immer weniger zu kitten. Das
politisch besorgniserregend stark um den Kaczyński-Orbit zentrierte
Machtgefüge seiner Partei und von ihr kontrollierter Organisationen
und Seilschaften gerät derzeit sichtbar ins Wanken. Denn seine
Formation könnte nun mithilfe jener Waffen zu Fall gebracht werden,
mit denen sie bislang ihre politischen Gegener diskreditierte –
Vorwürfen des Klüngels, der Geldgier, der Vetternwirtschaft.
Am
28. Januar veröffentlichte
die überaus PiS-kritische und einflussreiche Tageszeitung „Gazeta
Wyborcza“ Telefonmitschnitte
eines Gesprächs Kaczyńskis
mit einem österreichischen Investor. Dieser sollte ein umgerechnet
rund 300 Millionen Euro teures Bauprojekt in Warschau realisieren –
in Auftrag gegeben durch
die Srebrna GmbH, eine in den 1990er Jahren von Kaczyński und seinem
politischen Umfeld gegründete
Gesellschaft. Die Gesprächsmitschnitte sowie in den folgenden Wochen
auftauchenden weiteren Berichte legen nahe, dass Kaczyński informell
der Strippenzieher des Unternehmens ist – obwohl es Parteien
verboten ist, Firmen zu führen. Inzwischen sind auch Vorwürfe von
Schmiergeldzahlungen an Mitglieder des Rates der
Lech-Kaczyński-Stiftung,
die Eigentümerin der Srebrna, erhoben worden. Der
österreichische
Investor fordert von Srebrna, inzwischen vor einem polnischen
Gericht, die Zahlung von 1,3 Mio. Euro für sein Projektentwurf.
Kaczyński
indes verweist darauf, dass er bei der Srebrna kaum etwas zu sagen
und auch nicht gegen Gesetze verstoßen habe. „Die
Lech-Kaczyński-Stiftung
ist von der Partei rechtlich vollständig getrennt. Viele reden über
Srebrna als eine ökonomische Basis unserer Partei. Doch so ist es
nicht. Zwischen der PiS und der Srebrna-Gesellschaft (…) gibt es
keine finanziellen Transfers“, sagte Kaczyński
Mitte Februar. Kurze
Zeit später hat er Klage gegen die „Gazeta Wyborcza“ wegen
Verleumdung erhoben.
Der
Srebrna-Fall ist komplex, von erwiesenen Gesetzesverstößen kann
bisweilen nicht die Rede sein, er wird von der Opposition und ihr
nahestehenden Medien womöglich über Maß befeuert – und dennoch
dürften die Ausfransungen des Falls ebenso wie die Tragödie von
Danzig in den kommenden Monaten Nachwirkungen entfalten. Denn
beide markieren nicht nur ein punktuelles Ereignis – hier
eine Finanzaffäre, dort einen Mord. Vielmehr scheinen sie tiefer
liegende Mechanismen oder Ursachen aufzudecken, die die Menschen
beschäftigen, und beunruhigen müssen – und die ein großer Teil
von ihnen ablehnt.
Denn
tatsächlich speist sich ein Teil der PiS-Wählerschaft aus
einst enttäuschten PO-Wählern, denen die Partei nicht nur zu
liberal, sondern auch zu macht- und womöglich auch geldversessen
schien – einige Affären aus der Zeit der von der PO geführten
Regierungen der Jahre 2007-2015 belegen Korruption und Seilschaften,
andere legen diese zumindest nahe. Kaczyński
indes hat jahrzehntelang das Image eines inkorrupten, alleine an
seinen politischen Visionen interessierten patriotischen Alphatiers
aufgebaut – und seine Partei sollte Spiegel dessen sein. Er
demonstrierte dies mehrmals, so etwa auch vor gut einem Jahr, als die
PiS in die Breduille geriet, nachdem hohe Prämienzahlungen für
Kabinettsmitglieder bekannt wurden. Ex-Premierministerin Beata Szydło
verteidigte diese mit den Worten, ihre Mannschaft habe hart dafür
gearbeitet und „es sich schlicht und einfach verdient“. Auch
unter PiS-Anhängern regte sich Unmut – und Kaczyński
wies die Regierung von Mateusz Morawiecki prompt an, die Prämien zu
spenden, und die Bezüge aller Parlamentsabgeordneten
sowie
aller polnischer
Stadtpräsidenten um 20 Prozent zu kürzen. „In die Politik
geht man nicht wegen des Geldes“, sagte er. Kaczyński
zeigte klare Kante, Umfragen bescheinigten ihm den Zuspruch von vier
Fünftel der Landsleute, sein Image als inkorrupter Saubermann wurde
noch gestärkt.
Dieser
Nimbus ist mit dem Srebrna-Fall mehr als
angekratzt, zumal bereits in den Monaten zuvor eine Korruptionsaffäre
rund um den von der PiS bestimmten und inzwischen im Gefängnis
sitzenden Chef der staatlichen Finanzaufsicht KNF
ausgebrochen war.
Hinzu
kommt, dass es Kaczyński
selbst war, der die brutalsten Hassgeister rief, die sich seither
penetrant im öffentlichen Diskurs, und auch im nicht öffentlichen
zwischen die Menschen eingenistet haben. Die finale
Grenzschranke
des Respekts
hatte er im Sommer 2017 selbst eingerissen. Bei einer hitzigen
Debatte im polnischen Parlament (Sejm, Unterkammer), als die PiS
weitere umstrittene
Justizgesetze
durch das Unterhaus drückte und
die Opposition auf die Justizpolitik seines
2010 verunglückten Bruders und Staatspräsidenten Lech Kaczyński
verwies, schmetterte er – spontan und ohne Rederecht – von der
Sejmkanzel aus in Richtung Opposition: „Wischt
euch eure verräterischen
Fressen
nicht mit dem Namen meines Bruders
ab. Ihr wolltet ihn zerstören, ihr habt ihn ermordet, ihr seid
Kanaillen!“ Als
er sich in seine Bank zurücksetzte, war von der Empörung kurz zuvor
wenig zu sehen, dafür etliche PiS-Abgeordnete, die sich schützend
vor ihren Chef stellten. Vom Parlamentspräsidenten Marek Kuchciński
(PiS) erhielt er nicht einmal eine Abmahnung. Millionen von
Zuschauern wurden so Zeuge hasserfüllter Mordanschuldigungen, aber
auch von Kadaver-Gehorsam und bedingungsloser Unterwürfigkeit. Am
folgenden Tag hatte Kaczyński
bei einem
Interview die
Gelegenheit, zumindest etwas zurückzurudern.
Doch stattdessen setzte
er unter
die von ihm am Tag zuvor vollzogene Herabstufung der Rede- und
Respektstandards eine symbolische Unterschrift. Denn er entschuldigte
sich nicht etwa, sondern verteidigte seine Haltung und seine Worte.
„Ich hatte keine andere Wahl. Es war ein moralischer Imperativ, so
würde ich es sagen. Ich denke weiter, dass ich richtig gehandelt
habe.“
Der
neue moralische Imperativ hieß
spätestens seither:
alles
ist erlaubt, sofern es durch scheinbar berechtigte Gefühle, hier der
Tod des Bruders, gestützt wird – Fakten oder Argumente zählen
ebenso wenig wie die möglichen, nicht intendierten Auswirkungen des
Gesagten oder Getanen.
Am
14. Januar etwa, am Tag, als Adamowicz den Kampf um sein Leben
verlor, hatte das PiS-nahe Wochenmagazin „Sieci“
mit einem vielsagenden Titelblatt aufgemacht: imaginäre Richter
feuern dabei voller Wut mit Maschinenpistolen um sich. Die Titelzeile
lautete: „Erhitzte Kaste. Die Richter gehen immer häufiger auf
politische Barrikaden.“ Doch auch die oppositionsnahen Medien haben
in den vergangenen Jahren nicht mit fragwürdigen Aufmachern und
Beiträgen gespart, die wiederum die PiS über das in der politischen
Karikatur hinaus verträgliche verunglimpften.
Offenbar
jedoch wollen viele Menschen die hasserfüllte Sprache und damit den
Hass nicht mehr hören und wirken sehen, bedingt nicht zuletzt durch
den Mord an Adamowicz. Und schon bei den Protesten gegen die
Justizreformen im Sommer 2017, schreibt der einst der PiS
nahestehende Politologe Rafał
Matyja,
habe
„die junge Generation so massenhaft teilgenommen, weil sie von der
Aussage Kaczyńskis
über die Ermordung seines Bruders und die verräterischen Fressen
bewegt war; dies war womöglich
wichtiger
als der Widerstand gegen die Veränderungen in den Gerichten“.
Diese Protestierenden seien zu dem Schluss gekommen, „dass die
Politiker zu weit gegangen waren. Das spektakuläre Zurschaustellen
der Wut, die den Fakten entgegensteht und zugleich die Motivation des
an der Spitze der regierenden Partei stehenden Menschen enthüllt,
wirkte mobilisierend“, sagt Matyja.
Der
Tod Adamowicz' entfaltet sich daher als der
womöglich entscheidende Bruch der
Wirkungskraft des bald 70-Jährigen
Kaczyński. Der PiS-Chef erschien
demonstrativ weder bei der Schweigeminute für Adamowicz im
Parlament, noch auf der Trauerfeier in Danzig, anders als
PiS-Premierminister Mateusz Morawiecki und Präsident Andrzej Duda.
Eine bewusste Handlung, oder eher ein Auslassen einer Handlung. Der
vollends kaltherzige, kühl kalkulierende Machtpolitiker – der
entweder die politische Bedeutung des Mordfalls abwerten, oder auch
seine direkte Verbindung zum Hassklima kaschieren wollte – trat
hier vor aller polnischen Augen in Nicht-Erscheinung.
Zum
anderen aber – und dies ist ungleich wichtiger und hat nur
mittelbar etwas
mit Kaczynski zu
tun – ist
es die Art, wie Danzigs
Präsident
Adamowicz starb. Seine Todesminute ist in einem tragisch-symbolischen
Bild voller lachender Menschen getaucht, kurz nach Adamowicz' letzten
Worten, als er gerade enthusiastisch und authentisch von einer Zeit
spricht, „das Gute zu teilen“, um Sekunden später mit einem
Lächeln in das Gesicht seines auf ihn einstürzenden Mörders zu
schauen. Das Bild, die Tat, das Opfer und die politische Einbettung
wird sich aber auch deshalb in den Köpfen der Menschen einprägen,
weil die Tat die Schutzlosigkeit des Lebens als solchem aufs
Brutalste offenbarte. Zumindest einige solcher Taten werden
mitbewirkt, oder eben: verhindert, durch diffuse Handlungen des
öffentlichen Alltags, der in unterschiedliche Richtungen fließen
mag: ins Aggressive, oder ins Dialogische.
Tatsächlich
scheinen jedoch derzeit die Moderaten Stimmen an Bedeutung zu
gewinnen – und zwar sowohl in der Gesellschaft, als auch in der
Politik. „Ich behaupte, dass die nächsten Wahlen von jenen
gewonnen werden, die eine größere Empathie gegenüber der
gegnerischen Seite zeigen werden“,
sagt etwa
der
Politologe Jaroslaw Flis in
einem Interview.
Seine Einschätzung beruht nicht nur an dem vagen Vertrauen darauf,
dass es „mehr Menschen guten Willens“ gäbe, als der öffentliche
Diskurs der vergangenen Jahre gezeigt habe. Vielmehr zeigten Studien
wie die erwähnte zur „Polarisierung in Polen“, dass jenseits der
loyalen Parteianhänger „über zwei Drittel nicht so polarisiert
ist, dass sie aufhören, in anderen einen Menschen zu sehen“, sagt
Flis. Aus
Sicht der PiS ist aber
gerade dies
keine gute Nachricht – sie muss auf ihre Kampfrhetorik verzichten
und den Geldbeutel öffnen. Politologe
Matyja glaubt
daher, dass die
PiS in
dieser Situation nicht mehr mit radikalen Positionen mobilisieren
könne. „Sie kann auf keinen eindeutigen Gegner und brutal
beschuldigten Feind weisen, denn jede scharfe Attacke auf die
Bürgerplattform (PO) kann auf die Vorbehalte von Wählern stoßen,
auch solchen, die bislang eine Stimmabgabe für die PiS nicht
ausgeschlossen haben“. Dies
könne wiederum eine Demobilisierung der PiS-Anhängerschaft zur
Folge haben, sagt Matyja – vor allem von solchen, die die PiS
gerade wegen ihrer Freund-Feind-Erzählung schätzen. „Ähnliches
gilt im Übrigen für die Anti-EU-Rhetorik (der PiS; Anm. d. Red),
die ganz offensichtlich nicht funktioniert.“
In
der Tat hat Kaczyńskis Formation
inzwischen die schweren Geschütze in den Keller geräumt und
präsentiert sich, wie schon vor den Parlamentswahlen anno 2015, wie
ein zahmes Lahm. In der Auseinandersetzung mit der EU hat die
Regierung Mateusz Morawiecki bereits abgerüstet und Teile der vom
Europäischen Gerichtshof (EUGH) beanstandeten Justizreformen
zurückgenommen.
Im
Land selbst präsentierte Kaczynskis Mannschaft vor einigen Wochen
neue Reformvorhaben. Diese betreffen – als Kaczyńskis
„Fünfer-Paket“ angepriesen – vor allem Soziales wie die
Ausweitung des Kindergeldprogramms 500plus, eine 13. Monatsrente, die
Einkommenssteuerbefreiung für unter 26-Jährige, den Ausbau des
Nahverkehrs in kleinen Städten und Dörfern und die Senkung der
Sozialversicherungsbeiträge. Es ist zwar durchaus ein Schlag gegen
die bisherige Opposition, die sich vor allem auf Fragen der
demokratischen Freiheiten und der Justiz fokussiert.
Doch
hinter dem Fünfer-Paket Kaczyńskis steckt
mehr. Die Angst.
Die
Partei Wiosna, der Frühling,
im
politischen Frühling?
Denn
ihr soziales Gesicht schärft die PiS nicht nur wegen der oben grob
nachgezeichneten Ereignisse. Vielmehr erwächst ihr seit Anfang
Februar ein neuer politischer Konkurrent, der bisweilen nicht nur
eine moderatere Sprache gegenüber der PiS spricht, sondern auch
einen Teil ihrer Wähler binden könnte – die linksliberale Partei
„Wiosna“, übersetzt: der Frühling. Gründer und unumstrittener
Star ist der 42-jährige Robert Biedroń.
Dieser scheint das Gegenteil dessen zu repräsentieren, wofür Polens
Politik in den vergangenen Dekaden, spätestens seit 2005, gestanden
hat – den gesellschaftlich und sozioökonomisch wenig progressiven,
inhaltslosen und zermürbenden Kampf zwischen den beiden
Mitte-Rechts-Parteien PiS und PO. Die formell als Linke geltende
Allianz der Demokratischen Linken (SLD) ist bislang ebensowenig im
Parlament vertreten wie die, auch faktisch linke, Graswurzelpartei
Razem. Auch sie und die liberale Opposition, allen voran die PO,
dürften zugunsten Biedrońs weitere
Stimmen verlieren – in aktuellen Umfragen ist die Wiosna, nur
wenige Wochen nach ihrer Gründung Anfang Februar, mit
Zustimmungswerten von 9 bis 14 Prozent bereits drittstärkste
Kraft.
Biedroń
ist kein politischer Nobody. Als Aktivist für Schwulen- und
Minderheitenrechte war er lange Jahre in einer Stiftung und auf der
Straße aktiv. In den Jahren 2011 bis 2014 war er der erste offen
schwule Parlamentsabgeordnete Polens, erarbeitete
sich sein Renommee als engagierter und kompetenter
Fachpolitiker in Fragen der Menschenrechte, und
ging später als überraschender Sieger der Kommunalwahl in der
100.000 Einwohner zählenden Stadt Slupsk im Jahr 2014 als
Stadtpräsident in die nördliche Provinz. In
den ersten Jahren musste der mit einem Partner fest liierte –
gesetzliche Regelungen über homosexuelle Partenrschaften gibt es in
Polen nicht – viel Häme wegen seiner sexuellen Orientierung über
sich ergehen lassen. Seit
seiner Zeit als Abgeordneter in
Warschau hat er jedoch vielen Landsleuten ihre Vorbehalte gegenüber
Homosexuellen nehmen können und gehört heute zu den Politikern,
denen die Menschen im Land am meisten vertrauen. „Ich habe viel
Erfahrung damit, gegen den Strom zu schwimmen. In meinem politischen
Leben habe ich dies schon einige Male getan“, sagt Biedroń,
der sich auch für ein liberales
Abtreibungsrecht und
die Rechte der Frauen stark macht
– und unter ihnen beliebter ist als unter Männern.
Doch
Biedrońs Partei spricht nicht nur Frauen
und linksliberale Wähler an, die, auf deutsche Verhältnisse
übertragen, wohl vor allem die Grünen wählen würden – Biedroń
postuliert den Ausstieg aus der Kohleförderung in Polen bis
zum Jahr 2015 – aber auch die SPD und die Linke. Er macht auch ein
Angebot an all die Landsleute, die, eher konservativ, die PiS wegen
der sozialen Reformen schätzen und nicht wegen ihres ins Autoritäre
drängenden Nationalismus. Auch Biedroń
kritisiert die Politik der PiS. Doch den Reihen der vor Kurzem
anlässlich der Europawahlen im Mai geschmiedeten „Europäischen
Koalition“ – bestehend aus fünf Gruppierungen unter Führung der
liberalkonservativen PO – wollte er nicht beitreten. Er glaubt
nicht nur daran, seine eigene Partei groß machen zu können. Er will
sie vor allem nicht in einen polnisch-polnischen Stellungskrieg
positionieren. „Wir müssen endlich
beginnen, über Programme zu reden und nicht den polnisch-polnischen
Krieg weiterführen“, sagt der Politiker. Eine Zuordnung im
Links-rechts-Spektrum vermeidet die Partei ebenfalls, sie sieht sich
in der Tradition der progressiven Sozialdemokraten aus Schweden. Mit
Betonung auf progressiv.
Biedrońs
Kernbotschaft ist eine andere – er spricht die positiven Gefühle
an und meidet die Freund-Feind-Rhetorik. In
der Tat wirkt der Politiker unverbraucht, progressiv und weltoffen –
und setzt zugleich an polnischen Befindlichkeiten an. „Ich will das
Antlitz dieser Erde verändern“, sagt er in Anspielung an die in
Polen wohlbekannten Worte von
Papst Johannes Paul II – um nachzuschieben, dass er die
finanziellen Privilegien der katholischen Kirche schleifen will.
Er will die
Situation von LGBTQ-Personen rechtlich stärken, eine
Grundsicherungsrente deutlich über der bisherigen Mindestrente
einführen, die Gehälter im öffentlichen Dienst und der Politik
offenlegen, den gesetzlichen Mindestlohn kräftig anheben, ein
Wohnbauprogramm starten, die Investitionen in das Gesundheitswesen
erhöhen.
Paradoxerweise
könnte Biedrons Gruppierung durch die jüngsten, recht teuren
Wahlversprechen der PiS noch an Stimmen gewinnen. Denn die Regierung
versprach die erwähnte jüngste Steigerung der Sozialausgaben in
einem nur etwas größeren Umfang, als es Biedroń
kurz vor ihr getan hatte – umgerechnet gut acht Millarden Euro soll
sein Reformpaket kosten. Die PiS überbot ihn, wenige Wochen später,
nur um gut eine Milliarde Euro – und übernahm einige seiner
zentralen Forderungen nahezu eins zu eins. Biedroń
(und der PiS)
wird freilich von anderen Oppositionsparteien und liberalen Medien
vorgeworfen, die Gegenfinanzierung sei nicht gesichert. Doch weil die
PiS vor vier Jahren mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert war, nach
den Wahlen aber einen Großteil der Reformen tatsächlich umsetzte,
erscheinen ihre heutigen Versprechen durchaus glaubwürdig. Und damit
auch jene Biedrońs, die relativ zum
Staatshaushalt auch in der Höhe nicht wirklich radikal sind.
Mit
diesem Bonus und dem Fokus auf die genannten sozialen und
sozioökonomischen Fragen und auf die Probleme in kleinen und
mittleren Städten könnte Biedrons Partei bisherige und potenzielle
PiS-Wähler binden. Solche, die die Verbesserung ihres Lebens und der
öffentlichen Infrastruktur lieber einer progressiven und zugleich
unverbrauchten Gruppierung anvertrauen – und nicht mehr einer, die
an Grundfesten der Demokratie zu rütteln scheint und dabei ein
vergiftetes Klima schafft. Und: mit einem Mann an der Spitze, der dem
ebenso bürgernahen, am 13. Januar ermordeten Paweł
Adamowicz sehr ähnelt. Biedroń kann auf
eine recht erfolgreiche Zeit als Stadtpräsident von Słupsk
zurückblicken, die Komunalwahlen im Herbst 2018 – auf die er wegen
seiner Parteipläne verzichtete – hätte er laut Umfragen mit einem
besseren Ergebnis als noch 2014 gewonnen. Immer
wieder bringt er in Interviews und Kundgebungen seine Erfahrungen und
Probleme an der lokalen Basis vor. Die
Menschen, sagt er,
spürten, „dass wenn ich mich schützend vor Schwule und
Feministinnen stelle, ich mich auch schützend vor Menschen stellen
werde, die ihren Job verlieren“.
Ein
weiterer Umstand scheint ihm in die Hände zu spielen: viele Polinnen
und Polen sind müde ob des seit fast fünfzehn Jahre währenden
Polit-Duopols aus PiS und der liberalkonservativen Bürgerplattform
(PO) des heutigen EU-Ratspräsidenten und Ex-Premiers Polens Donald
Tusk. In diesem Lagerkampf etablierte sich ein Freund-Feind-Denken,
das eine undurchdringliche Mauer zwischen Anhängern der beiden
Seiten bildete und den jeweiligen politischen Gegner über Maß
dämonisierte. In diesem zu einer Frage des Schicksals überhöhten,
tumben Lagerkrieg – durch die Flugzeugkatastrophe von Smolensk
maßgeblich befeuert – wurden jahrelang wesentliche Fragen wie
Soziales und Arbeitsmarkt vernachlässigt. Jenseits berechtigter
Kritik an der Politik der PiS ist in der PO bis heute kaum ein
politischer Gegenentwurf sichtbar, der wesentlich über eine Rückkehr
zum Status quo vor dem Jahr 2015 hinausginge. „Für die Opposition,
die sich hinter der Flagge mit der Aufschrift 'Erst entfernen wir die
PiS von der Macht, und dann schauen wir, was kommt' verschanzt hat,
wirkt die Partei Wiosna im Jahr 2019 wie deprimierende
Gewissensbisse“, schreibt der linksliberale Wirtschaftspublizist
Rafał Woś.
Noch
steckt die Partei in Kinderschuhen und sind jenseits von Biedroń
nur wenige Gesichter der neuen Gruppierung öffentlich präsent. Doch
die Zeit, und vor allem: der sich derzeit
wandelnde Zeitgeist, könnte Wiosna in die Hände spielen. Und die
Parteienlandschaft in Polen dauerhaft verändern.
Der
europäisch
gestählte
Rückkehrer
Dieses
sieht offenbar auch Donald Tusk ähnlich. Der EU-Ratspräsident und
in den Jahren 2007-2014 Premierminister Polens bereitet inoffiziell
bereits seit einiger Zeit seine Rückkehr an die Weichsel vor. Lange
Zeit war spekuliert worden, dass er erst nach Auslaufen seiner
Amtszeit als EU-Ratspräsident Ende dieses Jahres bei den polnischen
Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 antreten werde. Doch nur fünf
Tage nach Gründung der Wiosna – womöglich beeindruckt von dem
medialen Interesse rund um Biedroń sowie
dessen guten Umfragewerten – ließ Tusks Umfeld an die
Öffentlichkeit durchsickern, dass der 61-Jährige eine Plattform für
Oppositionskräfte schaffen wolle. Der Name lautet: „Bewegung des
4. Juni“. Am 4. Juni dieses Jahres jährt sich der 30. Jahrestag
der ersten „halbfreien“ Parlamentswahlen in Polen. Klar ist
bislang, dass die neue Plattform auf die Zusammenarbeit mit
Stadtpräsidenten des Landes sowie „allen Kreisen, die bislang
nicht in Oppositionsparteien sind und helfen können, die PiS zu
schlagen“, wie es aus Tusks Umfeld inoffiziell heißt.
Unklar
ist, wie sich Tusks Plattform zu seiner Stammpartei, der PO, sowie zu
deren wenig charismatischen Chef Grzegorz Schetyna positionieren
wird. Tusk selber, der zuletzt immer offener gegen die PiS Stellung
bezog und bezieht, äußert sich nicht direkt zu seinem neuen
Engagement – wohl auch, um die Spannung zu dosieren. „Sicher
können wir zwischen dem 3. Mai und dem 4. Juni die Antwort auf die
Frage erwarten, ob es zu einer vorzeitigen Rückkehr des EU-Ratschefs
nach Polen kommt“, schreibt Politologe Matyja. „Vor dem Tod von
Pawel Adamowicz schien dies wenig wahrscheinlich, die Entscheidung
wäre wahrscheinlich nach den Parlamentswahlen (in Polen im Herbst
2019; Anm. d. Red.) gefallen. Nun scheint die vorzeitige Rückkehr
möglich, begründet durch diesen dramatischen Kontext.“
Die
anderen Impulse für Tusks mögliche vorzeitige Rückkehr setzen
jedoch die wankende PiS – und Biedrońs
Frühlingspartei.
Tusks
Basis wird dabei seine Heimatstadt Danzig sein. Bereits jetzt
arbeitet er mit der neuen Stadtpräsidentin Dulkiewicz zusammen –
bei der Organisation der Feiern des 4. Juni in Danzig. In der Stadt
hat auch das renommierte Europäischen Solidarność-Zentrums (ECS),
maßgeblich von Paweł
Adamowicz
iniitiert, seinen Sitz. Kurz nach seinem Tod entbrannte ein Streit
zwischen dem ECS-Vorstand und dem Kultusministerium, das seine
ECS-Förderung gekürzt hatte und seinen Einfluss in den ECS-Gremien
stärken wollte. Doch eine spontane, polenweite Spendensammlung
brachte die benötigte Summe von umgerechnet rund 750.000 Euro an nur
einem Tag zusammen – initiert durch die Schneiderin Patrycja
Krzymińska,
die bereits die
letzte Spendendose Adamowiczs durch ihren Aufruf nach dessen
Tod mit
umgerechnet
rund
vier Millionen Euro füllen konnte.
Die
ECS-Geschichte wirkt symbolisch – vor allem im Kontext des Todes
Adamowicz', und eben: des Mythos von Danzig als
multikultureller Stadt und Geburtsort des für
Millionen von Polinnen und Polen so wichtigen Mythos der Solidarność.
Die
„Solidarność“,
verstanden als Idee, als
spezifisch polnische und zugleich universelle Idee, lässt
sich staatlich nicht kontrollieren. Dies galt schon im Jahr 1980. Und
gilt offenbar auch anno 2019. Es
bleibt die Frage, wer diesen
Mythos im für
Polen so wichtigem Wahljahr
2019 glaubwürdig
wiederbeleben kann
– die Regierung, oder aber die alte und die sich neu formierende
Opposition, mit einer sich wandelnden Gesellschaft im Rücken. Die
Frage ist
heute offener, und damit auch hoffnungsvoller denn je.
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Mai 2018
Freiheit statt Wohlstand
Die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit – sie sind doch
nur das Fundament, das wir stets erneuern können. Selbst in ihrer utopisch
perfekten Ausprägung sind sie kein Endziel – vielmehr Instrument für das, was
wir von ihrer Basis aus frei handelnd erreichen wollen. Von
Jan Opielka
Die Bundestagswahlen sind gefühlte zwei Jahre her. Die
Königin ist tot – es lebe die Königin. Aber nicht nur durch die Kontinuität der
Person Angela Merkel als Bundeskanzlerin und der sich selbst erdolchenden
Sozialdemokraten als Junior, sondern auch durch die seit Jahrzehnten
wiederholten Grundschlagworte der (Post)Moderne: den Wohlstand und die
Sicherheit, gibt es im Westen weniger Neues, als es mitunter den Anschein macht.
Wohlstand und Sicherheit sind es, die die Politik, zumal im Wahlkampf und bei
fragwürdigen Koalitionsoptionen, den Menschen in unterschiedlich deklinierten
Formeln als Ziel verspricht. Und nur weil dies so ist, ist der Aufstieg von
Parteien wie der AfD in Deutschland und ihren Pendants andernorts erst möglich
– es sind die gedanklich-strukturelle Starre der etablierten Politik gepaart
mit dem sich auf der Zeitachse rasant entwickelnden Zeitgeist, in dem die
Zielphänomene Wohlstand und Sicherheit an Zugkraft verlieren und von den Rändern
der Gesellschaften sich ein falscher Radikalismus in ihre Herzen hineinfrisst.
Es lohnt nicht zuletzt daher, diese beiden rhetorischen
Zielvorgaben fürs Volk in Augenschein zu nehmen. Denn abgesehen davon, dass
sich ersteres, also der Wohlstand, nur in einem relativ-materiellen Sinne und
zweites nur bis zu einem bestimmten Grad erreichen lässt, sind Wohlstand und
Sicherheit als solche fragwürdige Groß- oder gar End-Ziele. Die Frage ist
vielmehr: was wollen wir mit dem Wohlstand und der Sicherheit, sollten wir sie
haben, denn anfangen? Welche inneren und äußeren Welten wollen wir auf Basis
des (begrenzten) Wohlstands – also des Mangels an Mangel in wichtigen und auch
unwichtigen Lebensaspekten – und dem verständlichen Wunsch nach Sicherheit – dem
Gefühl, dass die mich umgebenden Risiken überschaubar sind – erreichen?
Das Problem: Wohlstand und Sicherheit sind für sich
genommen langweilig. Und dies ist keineswegs als Ausdruck von Sattheit und
Überheblichkeit gemeint, die die real existierende Tragik etwa der zersetzenden
Armut und der tatsächlich bestehenden Unsicherheiten und Gefahren, in so vielen
Teilen der Welt, diskreditieren sollen. Vielmehr ist die Langeweile der Sud,
aus dem heraus nicht nur progressive Häresie und Neuschöpfung ihren Anfang
nehmen können, sondern auch Verachtung für den Anderen, Angst, das Ressentiment,
das überzogene Sicherheitsverlangen und das fehlgeleitete Streben nach noch mehr
materiellem Wohlstand.
Diese letzteren Sprösslinge der Langeweile zersetzen die
schöpferische Kraft eines jeden Menschen. „Langeweile ist eine Wurzel alles
Übels“, schrieb der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Denn
Langeweile der Person ist ein Vakuum – und dieses kann zum einen durch eigenes
bewusstes Denken und Handeln gefüllt werden. „Frankreich ist langweilig“,
schrieb die französische Zeitung Le Monde nur kurze Zeit bevor die
Studentenproteste des Jahres 1968 ihren mächtigen Anfang nahmen. Zuvor war
das Land in einer neuen Stabilität angelangt, denn viele Länder des Westens
sind nach dem Zweiten Weltkrieg von „Wirtschaftswundern“ oder, wie in
Frankreich, den „glorreichen 30 Jahren“ heimgesucht worden. Die Studenten nahmen
auch diese Langeweile der Stabilität – die einen Teil des revolutionären Suds
ausmacht, weil sie Bestehendes, das zersetzend ist, konserviert – zum Anlass,
loszustürmen. Sie verachteten die behagliche Dekadenz jener Menschen (und auch
sich selbst), die sich nicht nur auf Basis eigener Arbeit in bescheidenem oder
auch überbordendem Wohlstand eingerichtet hatten. In Westeuropa und
Nordamerika, schreibt Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung, seien die
Studierenden indirekt auch gegen die kapitalistische Wohlstandsgesellschaft auf
die Straße gegangen. „Ihr Protest hatte nicht mit zu wenig, sondern allenfalls
mit zu viel Prosperität zu tun, genauer: mit den empörenden Dingen, die trotz
Prosperität in der Welt passierten“, schreibt Piper. Der
britische Historiker Tony Judt bestätigt diesen Umstand: „Ich wuchs in einer
Zeit des Wohlstands, Sicherheit und Komforts auf, und deshalb habe ich, 1968
zwanzig Jahre alt geworden, rebelliert.“
Hier wirkte die Langeweile revolutionär. In den meisten
Zeitphasen der jüngsten westlichen Geschichte ist die Langeweile aber
domestiziert worden, sie wird gefüllt mit konsumierbaren Entertainment. Unsere
Langeweile wird also von anderen Menschen, Dingen und Handlungen für uns
umgewandelt. Und an dieser zweiten Stelle beginnt das Unheil seinen Lauf. Wenn
wir Menschen die uns jeweils gegebenen Bedingungen, auch die von relativem
Wohlstand und Sicherheit, nicht produktiv für die Eigenschöpfung und die
Schöpfung für die uns umgebenden Menschen nutzen, macht sich Dekadenz breit. Es
ist eine Dekadenz, die sich nicht zwingend in einem zur Schau gestellten
materiellen Reichtum äußert, sondern vor allem in einer Abgestumpftheit
gegenüber anderen Menschen. Der Essayist und Schauspieler Wallace Shawn
beschreibt uns, die wir in jenen Wohlstandsinseln dieser Welt leben, dabei
treffend als „die Glücklichen“. „Den meisten dieser glücklichen Leute fehlt die
Originalität oder die Kühnheit oder die Phantasie, die es bräuchte, damit sie
ihr angenehmes Leben aufgäben und sich dem Wohlergehen der Menschheit
widmeten.“ Seine eigene Person nimmt er da wohl nur zum Teil heraus. „Ich
selbst habe die Sehnsucht nach Bequemlichkeit immer noch nicht hinter mir
gelassen. Ich mag es behaglich; ich mag es wirklich enorm, wenn es behaglich
ist – selbst luxuriös, wenn ich das schaffe. Aber meine Lehrer weichten mich
auf. Ich würde sagen, dass ich auf halbem Wege zur Dekadenz bin.“
Diese Dekadenz, die heute den Westen von innen zersetzt,
während sie die anderen, die Verfluchten dieser Welt, ausbeutet, schafft
verflachte Realitäten, auf denen wir uns immer weiter voneinander entfernen, und
dies obwohl wir bereits in großer, im weitesten Sinne gefasster Distanz
zueinander leben. Wie der russische Philosoph Nikolai Berdjajew in dem Werk
„Von der Bestimmung des Menschen“ eindrücklich darlegte, leben
wir in den als zivilisiert geltenden Gesellschaften weitgehend auf der
Grundlage einer „Ethik des Rechts“. Ihr
Kennzeichen ist es, dass alle wesentlichen, erhabenen Aspekte des Seins in
verflachter Form auftreten – zurechtgestutzt auf ein Maß, das zwar ein
Nebeneinanderleben und auch ein Zusammenleben in kleineren und größeren
Gemeinschaften möglich macht, aber das die ganz großen Brücken zwischen den
Menschen zu schlagen nicht imstande ist.
Die Ethik des Rechts macht es etwa zur
Selbstverständlichkeit, dass wir zwar als Norm anerkennen, einen Verunglückten
eines Autounfalls zu versorgen und sein Leben zu retten – diese Norm haben wir
rechtlich institutionalisiert, in Form eines ganzen Rettungssystems, von
Krankenhäusern, Unfallversicherungen usw. Wir sichern uns, gemäß dieser Ethik, inzwischen
in fast allem ab – die alten Römer waren da unsere wichtigen Vorreiter.
Tatsächlich ist Römisches Recht bis heute wirkmächtig, es war vor allem dazu
bestimmt, die Bessergestellten vor den berechtigten Ansprüchen der
Schlechtergestellten, Unterdrückten, der Sklaven abzusichern. Und so sichern rechtliche
Verträge bis heute unser Leben ab: ob Eigentums-, Arbeits-, Miet-, Kauf- oder
immer öfter auch Ehevertrag – allenthalben wird das, was auf bloßem Vertrauen basierend
offenbar nicht wirken, zum Chaos führen würde, juristisch geregelt. Und so
stirbt das Vertrauen ab. Denn Vertrauen kann sich nur bewähren und gedeihen, wo
es auf die ständige Probe ohne doppeltes Seil gestellt wird.
Bei einer Betrachtung aus der Distanz verdeutlicht diese
Tatsache – dass wir Vertrauen realisieren wollen und es im Kern selbstverständlich
ist, anderen in Not zu helfen – nicht mehr und nicht weniger als einen kleinen
Auszug des dem Menschen innewohnenden Bewusstseins, dass wir auf eine tiefere
Weise miteinander verbunden sind, dass wir getrennte Körper und Wesen einer
Welt sind, ob wir dies nun humanistisch, sozialistisch, atheistisch oder
religiös auffassen. Und dass wir uns daher eigentlich immer helfen – und uns gegenseitig
vertrauen wollen. Und auch können.
Doch den Schritt dahin, also weiter zu gehen, den Schritt
in die beschriebene Tiefe (ein schöner Ausdruck: das „Tiefenvertrauen“) und
damit nach oben, wagen wir immer seltener – und in den von relativem Wohlstand
geprägten Welten offenbar noch weniger. Denn ist die Welt nicht voller
Menschen, die im weitesten Sinne „gerettet“ werden wollen, sollten und könnten?
Und haben wir anno 2018 nicht so viel Reichtum, aber auch derart viel Wissen,
Kompetenzen und Instrumente hervorgebracht, um dies in viel größeren Maße tun
zu können, als wir es tun? Es ist die fundamentale Krankheit der Moderne und
auch der Postmoderne, die bis auf Weiteres eben lediglich ein Anhängsel und
Abschluss des Modernen mit offenem Ausgang ist, dass wir Mittel, die nicht mehr
als Mittel sein könnten oder sollten, selbst als Zwecke und Ziele erachten und
gemäß dieser sich ständig ausbreitenden Doktrin leben – und damit zwangsläufig
den Anderen aus dem Blick verlieren.
Das wichtigste Phänomen dabei, das Fundament dieser
Doktrin, ist das kapitalistische System. Es befeuert diese Wohlstandsvermehrung
und Erd-Verzehrung und reproduziert sie auf einer immer höheren und immer
wackligeren Ebene, bis es durch von ihm erzeugten Ungleichgewichte und
Ungleichheiten zum Einsturz kommen muss. Bis es soweit sein wird, können wir
uns zumindest gedanklich von dieser angeblich nicht ideologischen Ideologie
lösen und sie als imaginierte Außenstehende betrachten. Aus dieser Perspektive,
also einem inneren Abschied vom Kapital-System, können wir den jedem Menschen
inhärenten Geist seines und ihres je eigenen und einzigartigen schöpferischen
Dranges begreifen.
So sehen wir, dass der Kapitalismus als fast alles
durchdringendes System nichts anderes tut, als unser schöpferisches Potenzial
in eine ihm in seine Ur-Wurzel eingeschriebene Richtung zu lenken – mit sanfter
Anziehung, der verlockenden soft power der reizvoll schillernden Produkte und
Dienstleistungen, dem Fetisch, und auch mit physischer Gewalt in Form von weit
gefasster Ausbeutung. Unser Streben wird im Kapitalismus auf die Produktion und
ständige Neuproduktion von Dingen und Dienstleistungen gerichtet, die wir in
der Folge verbrauchen, ohne sie alle brauchen zu müssen, bzw. sie allzu häufig nicht
adäquat und anders zu brauchen, als wir es auch tun können – etwa, was die
neuen Kommunikationsmöglichkeiten angeht.
Doch dass wir als Menschen immer mehr wollen und dass wir
niemals „fertig“ mit unserem Wollen sein können, ist dabei im Kern weder
verwerflich noch unverständlich. Denn dass wir immer mehr wollen, auch das
scheinbar Unerreichbare, ist dem Umstand geschuldet, dass wir lebenslang und unbedingt,
unbedingt zu einem nicht fassbaren 'Oben' wollen. Wir wollen sprichwörtlich an
die Bergspitzen, ganz nah an den Himmel, und weil die meisten von uns es in
diesem Zeitpunkt der Geschichte nicht selbst in die Hände, Köpfe und Füße
nehmen, die Bergspitzen zu erklimmen, bewundern wir – und hier hatte Friedrich
Nietzsche Recht – die anderen, die uns, einmal oben angelangt, als Übermenschen
erscheinen. Dass und warum wir diese passiven Blicke in unserem jetzigen
Entwicklungsstand etwa auf die Sportler richten, hat Peter Sloterdijk in seiner
meisterhaften Erzählung „Du musst dein Leben ändern“ dargelegt.
So sind etwa die spielerisch besten Fußballer heute
mittels ihrer vorbildlichen Übungsleistungen auf dem Platz zu götterähnlichen
Gestalten emporgestiegen. Fußballer zeigen mit ihren Werdegängen, dass harte
Arbeit an sich und ein vollkommenes Aufopfern für die eine Sache es vermögen,
uns (oder vielmehr sie) nach vorne, und nach oben zu bringen. Ein Prinzip, das
in seinem abstrakten Kern beinahe jeder Kritik standhält und seine Wurzeln der
Anziehungskraft wohl schon bei Homers ‚Odysseus‘ nahm, dem Grundmythos unserer
Kultur, wie Max Horkheimer und Theodor Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“
darlegten. Dieser Mythos des Dranges, des Willens, des Kampfes mit und gegen
sich, die Natur und all die Lebenswiderstände, hat seither viele Gestalten
angenommen – in der Moderne auch die des Sports, mit dem mannschaftlichen
Fußball als Königsdisziplin.
Das Fußballspiel zeigt uns aber auch, dass es auf dem Weg
zum Ziel nach oben offenbar immer menschliche Gegner gibt oder vielmehr geben
soll – 22 Spieler auf ein Tor machte ein gänzlich anderes Spiel. Der Umstand
des Gegner-Haben-Müssens wäre nicht weiter beachtenswert, wäre der Fußball ein Unterfangen
wie das Scrabble-Spielen. Doch der Fußball ist, vor allem wegen seiner in meisterhaft
orchestrierenden Teams vollzogenen Virtuosität, die uns vorbildlich erscheinen,
als attraktive, verdeckt-religiöse äußere Erscheinungsform des Kapitalismus viel
mehr als irgendein Spiel – er ist und wird ein Vorbildprozess, nach dem wir uns
auch im Leben zu richten haben: einzeln und in Gruppen, auch Nationen,
miteinander zu konkurrieren.
Die kapitalistisch-sportliche Religion heißt also seit
rund zwei Jahrhunderten:
‚Kämpfe dich gegen andere nach oben.‘
Diese generationenlangen Kämpfe haben uns bis zum frühen
21. Jahrhundert offenbar auf eine Stufe geführt, auf der wir Wohlstand und
Sicherheit als zweite tragfähige Ersatzreligion fest etabliert zu haben meinen
– als scheinbar sicheres Fundament für all jene von uns, die, salopp gesagt,
Sterne nur beobachten, anstatt selbst nach ihnen zu greifen. Wohlstand und
Sicherheit sollen uns lauwarmen Schutz vor den Anderen geben, mit denen wir auf
einer scheinbar niedrigeren Stufe und weniger aufregend, als es etwa die Fußballer
tun, ebenfalls ein mehr oder minder faires Konkurrenzspiel spielen um
begrenzten, von den anderen getrennt zu genießenden Wohlstand und die pragmatisch
(und am besten national) geteilte Sicherheit.
Aus diesem Zustand aber, aus diesem trügerischen
Konkurrenz-Stabilitäts-Verhältnis, entspringt nicht nur Distanz und
Abgestumpftheit gegenüber Anderen, sondern auch die Langeweile. Denn im Ziel
angelangt, fühlen wir, meist unbewusst, dass der Prozess ins Leere führt – die
ständige Wiederholung und Ausweitung des Gleichen, ob neue Weltmeisterschaften
oder neue Produkte, die im Kern die gleichen sind, verdeutlicht die Tatsache
dieser Leere nur und erzeugt, einmal kurzzeitig zum Stehen gekommen, die Langeweile.
Deswegen darf der Kapitalismus nicht stehen bleiben – the show must go on,
damit die Show die Langeweile verdeckt.
Nun ist aber gerade die Langeweile jene Quelle, die
sowohl die Möglichkeit für die ständige personale oder auch gemeinschaftliche Neuschöpfung
eröffnet – das ist der kompliziertere Weg. Sie lockt aber auch mit einem
leichteren Ausweg: damit, lieber im mannschaftlichen Konsens und in gemeinsamen
ersatz-ekstatischen Erlebnissen, auch den Schlachtrufen und dem ‚man‘, das uns Martin
Heidegger aufgezeigt hat, ein insgesamt passives Gefühl des 'Oben' zu erleben. „Wir
sind Weltmeister“ ist das Gefühl, das wir ständig anstreben – obwohl „wir“ gar
nicht auf dem Platz stehen. Und so schauen wir häufig einfach zu, anstatt
selbst zu „spielen“. Diese mitklatschende Passivität, das „man macht es so“ –
dies ist wohl der faktische kategorische Imperativ der Moderne, der Imperativ
des demokratischen und auch kapitalistischen Rechtsstaats. Ohne diesen
Imperativ würden die gen Fortschritt strebenden Gesellschaften dieser Welt nicht
so aussehen, wie sie es tun – und auch der Fußball hätte wohl eine ganz andere
Bedeutung als die überdimensionierte, die er heute im wahrsten Sinne des
Wortes: spielt.
Das „Man“ ist es aber zugleich, welches das historisch bislang
beste Spiel- oder eher Lebensfeld dafür mitgeschaffen hat, auf dem die Zielvorgaben
von Wohlstand und Sicherheit nun übertreibend ihr Unwesen treiben können – das
Spielfeld selbst sind die Demokratie und der Rechtsstaat mit seinen unzähligen
Gesetzen, mit denen wir uns vor uns selbst schützen. Die Setzung und Befolgung
von Recht, aber auch von Verhaltensmustern, die nicht rechtlich gesetzt sind
(etwa durch Hollywood, die Popkultur, die Religionen etc.), durch uns und in
unseren Demokratien ist nur durch das Über-Ich des transnational-national-gesellschaftlichen
‚Man‘ möglich – wir sind uns mitunter kaum bewusst, wie stark wir jenen
Autoritäten, die unsere Freiheit einschränken, Stunde um Stunde, eher Sekunde
um Sekunde folgen.
Viele von uns, vor allem jene, die sich zum rechten politischen
Rand hingezogen fühlen, haben nun ein Ressentiment gegen solche Demokratien und
den Rechtsstaat entwickelt, weil sie mit ihrer eigenen ‚Man‘-Situation – nicht
nur der materiellen – alles andere als zufrieden oder vielmehr erfüllt sind. Sie
fühlen sich im Kern unfrei. Und dies hat seine Ursache vor allem darin, dass
wir allzu häufig die uns innewohnenden Möglichkeiten des je personalen Lebens
nicht erschöpfend nutzen, uns nicht dazu in der Lage fühlen, durch das tägliche
Daseins-Dabeisein gebunden sind, oder daran gehindert werden durch faktische
Behinderungen und die zunehmenden Daseinsängste der komplexer und schneller
werdenden Welt. Wir schwimmen vielmehr im kapitalistisch getakteten
Lebensrhythmus – in dem nicht nur Zeit zu Geld wird, sondern tendenziell alles
uns Umgebende. Ein guter Grund im Übrigen dafür, ein bedingungsloses Grundeinkommen
einzuführen; in einer radikaleren Version würde es die Gesellschaft auf lange
Sicht fundamental verändern.
Weil dies oder andere Alternativen aber nicht wirklich greifbar
zu sein scheinen, weil ihre realistische Vision nicht in den Geist der Zeit
durchdringt, machen viele von uns die Demokratie und den Rechtsstaat just dafür
verantwortlich, dass wir selbst scheinbar nicht mehr vom Leben zu erwarten
haben als möglichen Wohlstand und mögliche Sicherheit, die jetzt beide auch
noch gefährdet zu sein scheinen durch die Globalisierung und die vielen neuen „Konkurrenzspieler“:
die Fremden und Flüchtlinge.
Ist es so gesehen nicht eine bittere Ironie, dass Menschen,
die politisch nach rechts drängen, für ihre Lage in erster Linie nicht (nur) den
Kapitalismus, sondern vor allem die liberale Demokratie und den Rechtsstaat
verantwortlich machen? Und ist es nicht noch viel bitterer, dass zudem Menschen,
die bereits einmal schwere Opfer wurden, auch auf den potenziellen Inseln der
Sicherheit erneut zu Opfern werden (können), etwa durch Abschiebung, Gewalt
oder einfach nur durch die Erfahrung, als Opfer abgelehnt zu werden? Womöglich
gibt es Forschungen darüber, was es mit Menschen macht, wenn ihnen so
fundamentale Rechte wie jene auf Leben, Unversehrtheit und Sicherheit vor Krieg
oder anderen Leiden verwehrt werden. Vielleicht sollten wir diese Menschen
danach fragen? Denn was sollen sie von Demokratien halten, in denen sie eine
Überfülle an Wohlstand und Sicherheit sehen, aber wenn sie, der oder die
Schutzsuchende, Menschen anderer Nationalität, daran als Rettungs- und
Lebensinsel teilhaben wollen, erfahren sie gefühlte Ablehnung und subtile oder offene
Feindschaft. Nicht nur von den offenkundig Rechten.
Dennoch, die Demokratie und der Rechtsstaat haben
mindestens zwei wichtige, unterschiedliche Wesensmerkmale. Sie stabilisieren
und befördern zwar zum einen das kapitalistische System und damit die, ungleich
verteilte, Wohlstandsvermehrung. Doch sie schaffen zugleich auch eine recht stabile
Plattform für Möglichkeiten alternativen Lebens und alternativer Zugänge zum
Leben – auch der Möglichkeit der eigenen Entfaltung, der Wege nach oben, von den
möglichst gleichen Chancen und Möglichkeiten der gemeinsamen Ebene aus. Einer
Ebene, die natürlich auch wichtige sozialpolitische und juristische Elemente
ihr eigen nennen sollte, auch wenn sie es mitunter nicht tut: Schutz vor
Verfolgung und Diskriminierung etwa, Bürger-, Zivil- und Arbeitsrechte,
Bildungschancen, Stärkung des Öffentlichen gegenüber dem Privaten, Wohlstandsumverteilung
etc.
Demokratie und Rechtsstaat generieren, mit Hilfe all der
genannten Errungenschaften der letzten 200 Jahre, zum anderen aber auch den
erwähnten überflüssigen Wohlstand, der uns erschlaffen lässt, und ein
trügerisches Sicherheitsversprechen, dessen Falschheit immer mehr Menschen erkennen.
Deshalb flüchten sich immer mehr von uns ins Nationale und dann – je nach
Zuspitzung der äußeren Lage – das direkt dahinter folgende Nationalistische.
Denn dieses verspricht eine Form eines leichten Weges nach Oben und einer
Sicherheit, die verlockend scheinen. Der Nationalismus sagt verkürzt nichts
anderes als das: ‚Wir können gemeinsam nach oben, als Nation, und du, als
reines Mitglied, bist Teil davon‘ – natürlich in Abgrenzung zu anderen Nationen
und ihren Mitgliedern, gemäß des Konkurrenzprinzips des Kapitalismus.
Doch dies ist ein schimärisches, zweifelhaftes Oben, von
der langfristig zerstörerischen Energie, die aus diesem Trugbild der Höhe erwächst,
ganz zu schweigen – die Geschichte ist mit dem Wahn, der diesen Vorstellungen
entspringt, blutrot gepflastert. Denn im Nationalismus soll uns die bloße,
teils mythisch aufgeladene Bluts- oder, in der moderneren Variante,
Bodenzugehörigkeit zu einer weitgehend nur konstruierten Gruppe – und den damit
verbundenen materiellen und nicht materiellen Vorteilen – nach oben hieven.
Einem Aufzug gleich, der uns zum Gipfel fährt. Doch ist jemand schon mal zum
Gipfel des Mount Everest oder auch zu seinen vielen kleineren Brüdern und Schwestern
mit dem Aufzug gelangt – mit einem Millionen Mitglieder zählenden Team?
Die Nation ist keine Basis für ein tatsächlich
gemeinsames Nach-Oben-Gelangen, wenn wir dieses als ein weit gefasstes freieres
Leben für die individuellen Menschen dieser Welt begreifen. Basis für ein
solches kann neben der Demokratie, dem Rechtsstaat und den darauf
verwirklichten persönlichen „Aufstiegen“ nur die nahe Gemeinschaft sein, die
nicht ausschließt, sondern tendenziell immer inkludiert. Eine solche
Gemeinschaft kann aber nur wirkmächtig werden, wenn die Einzelnen darin sich
bewusst ihrer selbst sind, als Subjekte aktiv sind und sich erst durch die frei
vollzogene Aktivität und Kommunikation Zugang zu Anderen eröffnen können, mit
denen dann feste Gemeinschaften, die wiederum nicht ausschließen, sondern sich
erweitern, erlebt werden. Und es gibt immer mehr solcher Gemeinschaften, deren
Kernmerkmal es ist, dass sie auf universelle humanistische Prinzipien setzen,
nah an den Menschen sind und ihren Unmut progressiv transformieren.
Gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Bevollmächtigung
auf der nahen Basis, die sich erweitert – das scheinen die Zutaten einer
künftigen, großen Umgestaltung. Damit wir aber all dies Beschriebene tun können
– und immer mehr Einzelne und Gruppen in allen Teilen der Welt tun dies,
erleichtert auch dank der, nicht mehr so neuen,
Internet-Kommunikationsmöglichkeiten – dazu brauchen wir die Demokratie und den
Rechtsstaat. Wir brauchen sie als Basis – und wir sollten deshalb gerade sie verteidigen,
und nicht in erster Linie den Wohlstand und die Sicherheit. Wir sollten dies tun,
wenn wir in absehbarer Zeit nicht in einer autoritären, mit starren Grenzen und
blanker Gewalt durchdrungenen Welt leben wollen, wie sie in den aus unserer
Sicht peripheren Regionen der Welt lange schon blutet, mit dem Iran, oder
vielmehr den Iranerinnen und Iranern, konkreten unschuldigen Menschen, als
Opfer einer erzkonservativ-kapitalistisch-kriegerischen Regierung der
Vereinigten Staaten von Amerika, und geführt von einem Mann, der den Geist der
Zeit in sich am vollständigsten vereinigt. Und das auch die Welt der
Wohlstandsinseln genau dahin strebt, ist allenthalben zu erleben. Die weltweiten
Handlungen der USA, aber auch die Entwicklungen in den Staaten selbst – die immer
noch der weltweite Vorbote künftig wahrscheinlicher Wege auch für den Rest der
Welt sind – bestätigen dies nur. Die Demontage des demokratischen, republikanischen
Systems, so fehlerhaft es auch ist, schreitet mit Trump und seiner nur
teilweise öffentlichen Interessenmaschinerie, trotz der noch standhaften checks
& balances voran. Diese Politik greift wie eine wachsende Krake nach allem,
und dass sie wächst, verdankt sie dem Umstand, dass sie mit Angst genährt
wird.
Es regiert schon jetzt die Angst, es soll also noch mehr
Angst noch autoritärer, misstrauischer und aggressiver regieren. Angst frisst aber
nicht nur die Seele auf. Sie zerstört das Gemeinsame – dass sie dazu jederzeit,
auch heute und morgen, in der Lage ist, auch hier bei uns, direkt, auf den
Wohlstandsinseln, daran glauben allzu viele jedoch nicht mehr.
Demokratie ist, wie die Freiheit, kein Zustand, sondern
ein permanenter Prozess, eine Basisstation, die ständig im Bau und in der
Zerstörung begriffen ist – aktuell tendenziell Letzteres. Demokratie bedeutet
permanente Demokratisierung und permanente Entdemokratisierung, ebenso wie
personal wahrgenommene und realisierte Freiheit ja nie länger als für einen
Augenblick ein Zustand, darüber hinaus aber stets ein Prozess der ständigen
Befreiung und (Selbst)Unterwerfung ist. Und weil im Kern jeder und jede frei
sein will, frei von Zwängen, Ängsten, frei zu einem guten Leben, wenn hier ein
wenig Pathos angebracht ist – deswegen sollten wir die Sorgen und Ängste aller,
die diese auch wirklich haben, berücksichtigen. Aber nicht nur in einem ethisch
rechtlichen Sinne, indem wir etwa Versammlungs- und Redefreiheit garantieren,
und besser wohl auch nicht von einem scheinbaren Oben der Besser-Wissenden und
postmodern angeblich Aufgeklärten herab. Warum nicht lieber authentisch,
staunend und tief auf Augenhöhe? Hier sehen wir – um hier für einen Moment dem
'man' seinen Drang in das Dasein zu versagen – am klarsten.
Wie wir das, was wir in diesen vielen Augen sehen können,
in ein auch gesellschaftliches Narrativ kleiden können, das den an Kraft
zunehmenden Nationalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen und das Schiff in
neue Richtungen zu lenken vermag – Antworten darauf werden weltweit und
händeringend gesucht, und immer mehr gefunden. Eine davon: die Nationalgrenzen lieber
weiter nach unten drücken, im physischen und intermenschlichen Sinne, und nicht
nach oben ziehen. Das Jahr 1968 scheint da ein guter Anknüpfungspunkt.
Vielleicht entfaltet es jetzt, ein halbes Jahrhundert nach seinem nicht
wegzudenkenden Beginn seine zweite, neue Jugend – oder die heutige Jugend, und
nicht nur sie, entfaltet ihr eigenes 2018. Das nicht Modemarke wird, sondern
Inhalt.
Denn Freiheit ist kein Produkt, Freiheit ist kein
Wohlstand – sie ist die Offenheit der Zukunft, der stets neue Anfang. Und nicht
nur, aber vor allem „die Nacht“, schreibt Wallace Shawn in seinem feinen Essay,
„die Nacht gibt uns Gelegenheit, die Möglichkeit abzuwägen, dass wir, wenn der
Tag kommt, noch einmal neu anfangen könnten, anders.“
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